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Gelehrte Kontroversen um den Bundesstaat

ALS MONARCHISCHER BUNDESSTAAT Hans-Christof K RAUS

3. Gelehrte Kontroversen um den Bundesstaat

Berücksichtigt man die eigentümliche Verfassungstradition Deutschlands und nimmt man die Umstände der Entstehung der Verfassungen von 1867 und 1871 in den Blick, dann verwundert die Tatsache nicht, dass die Natur und die Eigenart der Reichsverfassung bereits unmittelbar nach der Gründung von 1871 zu heftigen politischen und wissenschaftlichen Kontroversen geführt hat23. Konnte es einen monarchischen Bundesstaat, so wurde gefragt, als solchen überhaupt geben oder war das Reich nicht vielmehr doch nur ein Staatenbund in der Form eines Fürstenbundes? Wie stand es mit der Souveränität des neuen Staatsgebildes? Hatten die Fürsten ihre Souveränität vollständig oder nur zum Teil oder vielleicht auch gar nicht auf die neue Reichsführung übertragen – oder übten sie diese auch weiterhin gemeinschaftlich miteinander aus? Alle diese Fragen wurden von den führenden Staatsrechtlern des neuen Reiches eingehend und oft kontrovers diskutiert.

Anlass bot schon im Jahr 1872 die Erstlingsschrift eines jungen Juristen namens Max Seydel mit dem Titel „Der Bundesstaatsbegriff – Eine staatsrechtliche Untersuchung“. Er vertrat darin die aufsehenerregende, in den folgenden Jahren ebenso intensiv diskutierte wie kritisierte These von der strikten Bindung der Souveränität an den einzelnen Staat; eine Teilung oder gar Übertragung der Souveränität – etwa derjenigen eines Gliedstaates auf einen Gesamtstaat – hielt Seydel für vollkommen abwegig und in der Sache ausgeschlossen. Indem er sich ausdrücklich an die ältere Lehre des Verfassungsjuristen der US-amerikanischen Südstaaten aus der Zeit des Bürgerkrieges, James C. Calhoun, anschloss, stellte Seydel die These auf, dass es einen Bundesstaat im Prinzip gar nicht geben könne, sondern nur Staatenbünde oder Einheitsstaaten24.

Die deutsche Reichsverfassung von 1871 interpretierte er als einen

„Vertrag souveräner Staaten, deren keiner der Souveränetät sich entäußern

23 Zur Vorgeschichte und zu den Hauptlinien dieser Kontroverse siehe GRIMM: War das Deutsche Kaiserreich. (Anm. 5) 93ff; ausführliche Darstellung der Staatsrechtslehre im Kaiserreich bei Manfred FRIEDRICH: Geschichte der deutschen Staatsrechtswissenschaft. Berlin, 1997. 235–

319.; zur Bundesstaatskontroverse vor allem. 291ff.

24 Max SEYDEL: Der Bundesstaatsbegriff – Eine staatsrechtliche Untersuchung (1872). In:

derselbe: Staatsrechtliche und politische Abhandlungen, Freiburg. i. Br. – Leipzig 1893.

1–89., bes. S. 12ff.; vgl. auch Michael STOLLEIS: Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Bd. 3. München, 1992. 366f.; eingehend: Maren Becker, Max von Seydel und die Bundesstaatstheorie des Kaiserreichs (Studien zur europäischen Rechtsgeschichte, 244), Frankfurt a. M. 2009. bes. S. 66ff. u. passim.

wollte“25. Insofern also sei die Souveränität bei den Einzelstaaten bzw. den vertragschließenden Regierungen und Fürsten verblieben; dem Bund bzw.

dem Reich stehe aus diesem Grund lediglich dasjenige zu, „was ihm an Gewalt übertragen ist. Die Fälle seiner Zuständigkeit sind die Ausnahme, die Zuständigkeit der Staaten ist die Regel“26. Das Deutsche Reich sei also im Kern, auch wenn es sich selbst als Bundesstaat bezeichne, letztlich nichts anderes als lediglich ein Staatenbund, dessen Einzelstaaten sich im Rahmen eines Vertrages zusammengeschlossen hätten und weiterhin jeweils über ihre volle Souveränität verfügten. Ein Recht zum Austritt aus dem Bund gebe es zwar nicht, doch könne sich dieser gegebenenfalls auch wieder aufl ösen – freilich nur dann, „wenn alle seine Glieder hierüber einig sind“27.

Es versteht sich von selbst, dass dieser These recht bald schon entschieden widersprochen wurde. Wichtigster und einfl ussreichster Gegner der These Seydels war der führende Interpret der deutschen Reichsverfassung, Paul Laband, der in seiner rasch als nachgerade klassisch geltenden Darstellung, dem „Staatsrecht des Deutschen Reiches“, sowie in seinen ab 1872 an der neuen Reichsuniversität Straßburg gehaltenen staatsrechtlichen Vorlesungen den Unterschied zwischen Staatenbund und Bundesstaat ebenfalls auf eine einfache Formel brachte28. Nur eine Auffassung teilte er mit seinem Konkurrenten Seydel: auch für Laband war die Souveränität prinzipiell unteilbar. Deshalb gelangte er zu der Formel: „[…] Die Souveränität steht beim Staatenbund ganz den Einzelstaaten, im Bundesstaat ganz dem Gesamtstaat zu oder vielmehr, sie ist im Staatenbund eine Eigenschaft der Staatsgewalt der Mitglieder, im Bundesstaat eine Eigenschaft der Gesamtstaatsgewalt“29. Die Einzelstaaten haben also nach dieser Auffassung ihre Hoheitsrechte auf das Reich übertragen;

sie haben in ihrer Eigenschaft als „Mitglieder“ des Reiches allerdings auch weiterhin an diesen Rechten Anteil und an dem, wie Laband sagt, „hierauf

25 SEYDEL aoO.(Anm. 24) 44.

26 Ebenda 38.

27 Ebenda 59.

28 Paul LABAND: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. 5. Aufl . Bd. 1. Tübingen, 1911. 55–88.;

derselbe: Staatsrechtliche Vorlesungen. Hrsg. v. Bernd SCHLÜTER. Berlin, 2004. 258–265.; zur Stellung und Bedeutung Labands siehe auch STOLLEIS: Geschichte des öffentlichen Rechts.

(Anm. 24) Bd. 2. 341–348.

29 LABAND aoO. 64.

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beruhenden Recht, an dem Zustandekommen und der Betätigung des Willens des Reiches Teil zu nehmen und mitzuwirken“30.

Aus der Praxis der Gesetzgebung des Reiches leitet Laband sodann die Rechtstatsache ab, dass das Reich in gewissen Fällen und bestimmten Situationen „staatliche Herrschaftsrechte … gegen die Einzelstaaten“31 ausüben kann und darf. Gegen die von Seydel vertretene These, dass dem Reich ein Vertragsschluss der beteiligten Fürsten und Regierungen zugrunde liege, der im Prinzip bei Einigkeit aller Beteiligten auch wieder gekündigt werden könne, wendet Laband ein, dass mit der Errichtung des Norddeutschen Bundes der schon vor seiner Gründung (nämlich am 18. August 1866) abgeschlossene Vertrag der norddeutschen Länder erfüllt worden sei; damit aber habe das rein vertragsmäßige Verhältnis aufgehört „und die staatsrechtliche Organisation“

sei „an seine Stelle“ getreten32. Mit anderen Worten: Eine auch nur annähernd rechtlich korrekte „Aufl ösung“ des Reiches sei staatsrechtlich vollkommen unmöglich.

Der zweite große Staatsrechtler und Staatstheoretiker des Kaiserreichs, Georg Jellinek, ist Laband auf diesem Wege gegen Seydel gefolgt und hat Labands Lehre noch weiter ausgebaut, differenziert und in gewisser Weise verfeinert: Jellinek tat in seiner „Allgemeinen Staatslehre“ den im Grunde bereits naheliegenden, seinerzeit aber als fast revolutionär empfundenen Schritt, die Begriffe Staat und Souveränität voneinander zu trennen, indem er postulierte, dass es eben souveräne und nichtsouveräne Staaten gebe33: Nur der wirklich souveräne Staat könne, „innerhalb der von ihm selbst gesetzten oder anerkannten Rechtsschranken völlig frei den Inhalt seiner Zuständigkeit regeln. Der nichtsouveräne Staat hingegen bestimmt sich ebenfalls frei, soweit seine staatliche Sphäre reicht“34. Dieser (den Jellinek auch als „Unterstaat“

bezeichnet) besitzt die Rechtsmacht über seine Kompetenz, doch die Festlegung des Rahmens der eigenen Kompetenz, also die Kompetenz-Kompetenz, steht

30 Ebenda, 62.; in den Vorlesungen heißt es: LABAND aoO. (Anm. 28) 258.: „Die Einzelstaaten haben […] in der Reichsverfassung eine doppelte Function; sie sind theils Unterthanen des Reichs als einer über ihnen stehenden Potenz theils Mitglieder derselben als jurist. Person“.

31 LABAND aoO. (Anm. 28) 79.

32 Ebenda, 89.

33 Georg JELLINEK: Allgemeine Staatslehre. 3. Aufl . Ndr. Darmstadt 1960. 489ff.; siehe auch Jens Kersten, Georg Jellinek und die klassische Staatslehre, Tübingen, 2000., sowie STOLLEIS aoO.

(Anm. 24) Bd. 2. 450ff.

34 JELLINEK aoO. (Anm. 33) 495.

nicht dem nichtsouveränen Teil- oder Unterstaat zu, sondern ausschließlich dem souveränen „Oberstaat“35.

Angewendet auf die deutsche Reichsverfassung bedeutete dies, dass die Bundesstaaten zwar ihre Souveränität, wenn auch keineswegs ihren Staatscharakter als solchen verloren hatten. Souverän war – und zwar ausschließlich – das Reich, das den Einzelstaaten ihre jeweiligen Kompetenzen vorschreiben konnte. Lediglich durch den, wie Jellinek sagt, „Wegfall des ihn beherrschenden Staates“36, also den immerhin möglichen Untergang jenes über den Einzelstaaten sich befi ndenden Oberstaates, könnte im gegebenen Fall der nichtsouveräne Einzelstaat seine Souveränität zurückerhalten.

Eine merkwürdige Sonderposition zu dieser Frage vertrat – sich ausdrücklich sowohl gegen Seydel wie auch Laband stellend – in mehreren Publikationen um die Mitte der 1890er Jahre der Historiker Albert von Ruville37. Für ihn stellte das 1871 begründete Reich keinen Bundesstaat, sondern einen Einheitsstaat dar, und er begründete diese These mit der noch abenteuerlicher klingenden Behauptung, das Deutsche Kaiserreich sei staatsrechtlich nichts anderes als die Fortsetzung des 1806 nur zum Schein untergegangenen Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation – und dieses wiederum sei tatsächlich ebenfalls kein Bundesstaat, sondern ein „Einheitsstaat“ gewesen. Das alte Reich habe stets, so Ruville, „doch den rein monarchischen Charakter festgehalten, d. h. der Kaiser war der Träger des Staatswillens, die einzig aktive Gewalt, der wahre Souverän geblieben“38. Wilhelm I., König von Preußen, sei demnach im Jahr 1871 von den versammelten deutschen Fürsten (wie einst der Kaiser des Alten Reiches von den Kurfürsten) „rechtmäßig zum Nachfolger der ehemaligen deutschen Könige und Kaiser gewählt worden“39, was wiederum als Beleg für die „Wiederherstellung und Fortführung jener Institution“ zu gelten habe, „in deren Banne Deutschland schon ein Jahrtausend seiner Geschichte durchlebt hatte“. Zahlreiche Dokumente zur Neuentstehung des Reiches im Jahr 1871, vor allem zur Kaiserwahl sowie der Text der Kaiserproklamation, zeigten, dass

35 Vgl. ebenda, 496.

36 Ebenda, 494.

37 Albert von RUVILLE: Das Deutsche Reich ein monarchischer Einheitsstaat. Beweis für den staatsrechtlichen Zusammenhang zwischen altem und neuem Reich. Berlin, 1894.; derselbe:

Die Kaiserproklamation des Jahres 1871 vom Standpunkt des Staatsrechts. In: Preußische Jahrbücher. 83. (1896) 15–47.

38 RUVILLE aoO. (Anm. 37)286.

39 Ebenda, 181.

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sowohl das alte wie auch das neue politische Gebilde „kein oligarchischer Staat, sondern ein monarchisches Reich“40 sei, d. h. keinen Bundesstaat, sondern einen Einheitsstaat darstellte.

Freilich wurde die Einheitsstaatstheorie Albert von Ruvilles seitens der juristischen Mehrheitsmeinung recht bald schon als „romantische Schrulle“41 abgetan und kaum ernsthaft diskutiert. Die herrschende Auffassung der deutschen Verfassungsjuristen und Staatsrechtler entwickelte sich also – auch wenn Max Seydel weiterhin unbeirrt an seiner 1872 formulierten Theorie festhalten sollte42 – von der alten Staatenbund- oder Fürstenbundtheorie hin zu einem neuen Verständnis des modernen Bundestaates mit ungeteilter Souveränität, wie er vor 1918 neben Laband und Jellinek auch von den meisten anderen deutschen Verfassungsinterpreten vertreten wurde. – Anschließend wird zu zeigen sein, wie sich diese Entwicklung parallel auch auf der im engeren Sinne politischen Ebene vollzog.