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Die sechziger Jahre als Periode im Literaturprozeß

1. GEGENSTAND UND METHODE

1.5. Die sechziger Jahre als Periode im Literaturprozeß

Unter der hier verhandelten Problemstellung können die Jahre um 1960 bis 1970 als relativ selbständiger Zeitraum behandelt werden. Ausgehend von der Frage nach der Auseinandersetzung der Erzählprosa mit historisch produ-zierten Möglichkeiten individueller Entwicklung sind sie als politischer Abschnitt, als Phase sozialökonomischer, sozialdemographischer und kulturel-ler Wandlungsprozesse (VITÁNYI 1983, 13-22, 101-133) von besonderem Interesse.

Die Verknüpfung von Literaturprozeß und sozialökonomischen Zäsuren ist mit der gesonderten Untersuchung dieses Zeitraums bereits impliziert Der

hier herausgehobene Abschnitt läßt sich aber auch hinsichtlich literaturinter-ner Prozesse, an der Eigenart in ihm erschieneliteraturinter-ner bzw. entstandeliteraturinter-ner Werke belegbar, als literaturhistorische Periode betrachten. Je nach den methodisch dominanten Kriterien bzw. den vorrangig betrachteten Struktumiveaus der Werke variiert die Fixierung ihrer Grenzen14. Insgesamt läßt sich aber fest-stellen, daß die Jahre ab 1957 bis Ende der sechziger Jahre in der ungari-schen Literaturwissenschaft mit weitgehender Übereinstimmung als eine sol-che Entwicklungsperiode betrachtet werden15. Es ist die Zeit nach den „fünf-ziger Jahren" mit ihren kulturpolitischen Implikationen, die Zeit des begin-nenden 'Kádárschen Kompromisses', der nach Auffassung der ungarischen Literaturwissenschaft um 1960/61 zu einer auch in der literarischen Produk-tion konstatierbaren Konsolidierung des literarischen Lebens geführt habe.

Während bezüglich des Beginns dieser Phase der Literaturentwicklung weitgehende Übereinstimmung herrscht, zeigen sich vergleichsweise größere Differenzen dann hinsichtlich des Endes dieser Periode. Die Zäsur ist hier auf Ereignisse unterschiedlicher Bezugssysteme beziehbar.16 Bodnár geht in einer Diskusson 1979 von 1968 (BODNÁR 1981, 146), Szabolcsi von etwa 1970 aus (SZABOLCSI 1981, 148), generell werden zwei Jahrzehnte kon-frontiert (SZABÓ B. 1981, 206). Die Beschäftigung mit literarischen Tenden-zen der siebziger Jahre läßt Ereignisse in deren Vorfeld bereits ab 1965 ausmachen (TARJÁN 1984,425) (Dieser Aufbruch einer neuen Generation in der Erzählprosa betrifft jedoch zunächst nahezu ausschließlich die kleineren Genres, so daß für die Beschäftigung mit dem Roman die sechziger Jahre als Bezugsfeld bestehen bleiben.) Béládi, den die Frage nach internen Ab-läufen im Literaturprozeß, namentlich in den Prosaformen immer wieder be-schäftigt hat, sah in seinen späteren Arbeiten jenen hier zunächst mit der Metapher von den „sechziger Jahren" bezeichneten Komplex zunehmend nach hinten offen bzw. wesentlich weiter zu fassen. Hatte er aus dem Abstand eines Jahrzehnts die sechziger und siebziger Jahre, dem allgemeinen Brauch folgend, als „Arbeitshypothese" miteinander kontrastiert (BÉLÁDI 1981, 205), so äußerte er um 1981 in einer seiner letzten Arbeiten: „Nach der sich an den wirklichen Werten orientierenden inneren Umgestaltung der sechziger Jahre hat heute wiederum eine neue Modifikation der Wertgewichtung ihren Anfang genommen, die sich von wesentlich größerer Tragweite erweist, als die vor zwanzig Jahren. (BÉLÁDI 1986, 97)" „Diejenigen, die sich für die Zukunft der ungarischen Literatur interessieren und um sie bangen, müssen

sich Rechenschaft darüber ablegen, daß ein längere Zeit umfassender Ab-schnitt an sein Ende gelangt ist. Die ungarische Literatur hat das Ende eines Zeitalters erreicht und bereitet sich vor, in ein anderes mit einer neuen An-schauungsweise überzutreten. (95)" Dieser Prozeß halte noch an, seine

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legende Wende, eine neue Synthese lasse sich noch nicht prophezeien.

Innerhalb dieses möglicherweise weiter anzusetzenden Prozesses ist gegen Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre ein Wandel der Sichtweise, ihre „Peripherisierung" (SZKÁROSI 1980, 246) festzustellen, der es m. E.

erlaubt, den vorausgehenden Abschnitt relativ selbständig zu betrachten, ohne wesentliche seiner Momente auszuklammern. „Am Ende der sechziger Jahre", resümiert Szabolcsi innerhalb einer auf die grundsätzliche Ganzheitlichkeit der Literaturentwicklung nach 1945 basierten Gesamtdarstellung, „wirft die wirtschaftlich- gesellschaftliche Entwicklung neue, schwierige Fragen auf, und erwartet von der Literatur auch deren ... sozialistische Beantwortung" die Literatur erforscht so die „Bedingungen der neuen Existenzweise" „im Zeit-alter des Sozialismus und der technischen Revolution" (IRODALMI 1981,

182).

Die Zäsuren der Literaturentwicklung sind also eng mit wirtschaftlichen und politischen Entwicklungsprozessen verbunden, sie sind aber auch unmit-telbar an den in jenen Jahren entstandenen Werken ablesbar. Die in den fünfziger Jahren bevorzugt veröffentlichte Erzählprosa tendierte dazu, soziale Zielvorstellungen im Sinne des bereits Erreichten in die Realität zu projizie-ren. Das verband sich mit einer breiten Abschilderung der Wirklichkeit, mit der ausführlichen, handlungsreichen Ausmalung des Erzählten 'in den Formen der Wirklichkeit selbst', aus deren Extensität der Gültigkeitsanspruch der Darstellung resultieren sollte. Man meinte, die Bewegungsgesetze der Gesell-schaft zu kennen und führte sie in der Durchsetzung ihrer historischen Not-wendigkeit vor. Freilich läßt sich nicht die gesamte Literatur der fünfziger Jahre darauf reduzieren. Doch auch an der Arbeit derer, deren Poetik nicht in diesen einseitig begriffenen tagespolitischen Forderungen aufging, sind entsprechende Spuren zu finden. Andere Werke erschienen erst in den sech-ziger Jahre, wurden also erst zu einem späteren Zeitpunkt wirksam, während ihre Entstehung bereits hier anzusetzen ist.

Aus der Vielfalt der Prosaliteratur der vierziger Jahre fand nur weniges unmittelbare Fortsetzung. Béládi weist auf drei Richtungen im Romanschaffen

hin, die in den späten vierziger Jahren zur kritischen Aneignung und Fort-setzung offenstanden: Die im Werk von Zsigmond Móricz am deutlichsten ausgeprägte und von László Németh in einigen seiner Werke fortgeführte Richtung des „entdeckenden Realismus" (die von den genannten auf den reichsten Traditionen aufbauen konnte), die von Déry mit dem „Unvollende-ten Satz" angegangene Entwicklung einer sozialistischen Literatur in großer epischer Form, und schließlich die Verschmelzung der Mittel von Realismus und Surrealismus, wozu die dritte Generation des „Nyugat" Versuche unter-nommen hatte (BÉLÁDI 1969b, 389). Diese Tradition ging, ebenso wie der Kontakt zur Weltliteratur, zunächst weitgehend verloren. Die intendierte Durchsetzung eines konsequent sozialistischen Standpunktes in der Kulturpo-litik war in ihrer Realisierung mit äußerst dogmatischen wirkungsästhetischen

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und schaffenpoetischen Vorstellungen verbunden. So wird immer wieder vermerkt, daß die sozialistische Literatur schon sehr früh konkurrenzlos blieb und dadurch produktiver Auseinandersetzungen und Entwicklungsanreize sei-tens anderer Strömungen, aber auch aus der internationalen Literatur verlustig ging.

Mitte der fünfziger Jahre zeichneten sich hier erste Veränderungen ab.

Zunächst noch im traditionellen Gewand, im Zeichen konservativer Stilideale, wurden neue Fragen gestellt. Die hier einsetzende Annäherung an die Reali-tät, der wiedergewonnene Blick für reale Konflikte des Lebens, eingeschlos-sen der politischen Praxis der letzten Jahre, fanden um 1957 auch Umsetzung im formalen Inventar der Werke. Der Vorstoß in Richtung Realität erfolgte zuerst in den weniger kanonisierten Formen, in Reportagen, Skizzen, Novel-len, soziographischen Erkundungen. Diese Faszination der Wirklichkeit ist nicht nur im Sinne des „Zeigens, was wirklich ist", sondern auch der litera-rischen Entdeckung und Beschreibung tiefgehender sozialer Wandlungen zu verstehen und zieht sich in diesem Verständnis bis in die sechziger Jahre hin.

Zugleich wurde zunehmend nach der Verantwortung, nach den Entschei-dungsmöglichkeiten und der Entscheidungsfähigkeit des einzelnen gefragt.

Gegenüber den großen Gesellschaftsbildern der frühen fünfziger Jahre wandte sich das Interesse der Gegenwart in ihrer Alltäglichkeit zu. Besonders in den zunehmend Verbreitung findenden Kurzromanen dieser Jahre fand das allge-mein in der Literatur artikulierte Problembewußtsein auch strukturell seinen Niederschlag. Gegenüber der extensiven Darstellungsweise des traditionellen Romans wurden hier Mittel entwickelt, die eine prägnante, intensive

Erfas-sung sozialer Realität ermöglichten. „In der neuen geistigen Atmosphäre der sechziger Jahre führte die schriftstellerische Praxis zum Überdenken der Vorstellung von epischer Ganzheit; die früher nur formal betonten Kriterien des Realismus erhielten praktische Gültigkeit" (BÉLÁDI 1969b, 394). Neben dem Problembewußtsein, das sich in diesen Werken geltend macht, der the-matischen und stofflichen Hinwendung zum Alltag und zur jüngsten Vergan-genheit, sind sie in ihrer formalen Eigenart interessant: Gegenüber der For-derung nach dem großen realistischen Roman, nach der episch breiten Schil-derung der Verhältnisse nehmen sie dezidiert in den Verhältnissen Stellung, wobei sie zugleich den Prozeß zunehmender Entfaltung dieser Verhältnisse zur Totalität reflektieren, ohne ihn formell, in seiner Quantität, aufzunehmen.

„Die Mehrzahl der neuen Romane sind nicht den Eindruck der Abgeschlos-senheit einer in ihren Einzelheiten und in ihrer Ganzheit bekannten Welt erweckende Abbildungen, sondern Ringen im Kampf mit dem noch nicht hinreichend Bekannten, dem Unausgesprochenen, dem im Dunkel Bleiben-den. Auch deshalb kann man den Romantypus der sechziger Jahre 'pro-blemsuchend' nennen" (BÉLÁDI 1969b, 398).

Im Bewußtsein der Zeitgenossen erschienen die sechziger Jahre als eine äußerst produktive Phase literarischer Entwicklung, als eine Etappe nament-lich in der Erzählprosa, die Verheißungen einer Perspektive weckte, wie sie sie so in der Literatur des folgenden Jahrzehnts nicht widerfanden. „Aufsät-ze, die sich mit dem ungarischen Roman oder der Erzählung, d.h. mit künst-lerischer Prosa beschäftigen", stellt Béládi 1976 fest, „beschwören häufig die jüngste Vergangenheit herauf: die Werke und Erfolge der sechziger Jahre.

(...) Wir gestehen damit ein, daß wir die Fortführung des hoffnungsvollen Aufschwungs in den sechziger Jahren nicht so recht sehen, das Gefühl brei-tet sich aus, daß der ungarische Roman mehr versprochen hat, als bis heute erreicht worden ist. Damals erschien das Wirklichkeitsmaterial, das im Ro-man verarbeitet wurde, reicher, das Weltbild in den Werken moderner, der Einsatz unterschiedlichster romantechnischer Mittel erweckte Hoffnungen

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selbst bei solchen skeptischen Geistern, die strengste Maßstäbe anlegten."

Freilich, Béládi weist selbst darauf hin, die Erwartung war auf eine Fortfüh-rung dessen, was man als so verheißungsvoll einschätzte, gerichtet (vgl.

TIZENÖT 1974, 63) und basierte auf Kriterien, die von jener Literaturetappe 20 abstrahiert waren.

Selbst wo man sich später von solchen konfrontativen Wertungen distan-zierte, wo die Veränderungen in der Literatur der siebziger Jahre bereits nicht mehr nur negativ formuliert werden können, bleibt der Hinweis auf die Leistungen und den Reichtum dieser literarischen Epoche bestehen.

„Vielleicht rührt es daher, daß wir mit gewisser Nostalgie an den Anfang, die Mitte der sechziger Jahre denken: damals hatte die Literatur noch Be-deutung, Pathos; ihre Werke deckten etwas auf, sprachen etwas aus, waren von packender Spannung. Wir erinnern uns voller Heimweh an die Debatten, die um die in schneller Folge erscheinenden Werke entbrannten, auch an den Zusammenprall der Meinungen, an die scharfen Gegensätze." (BÉLÁDI 1981, 148) Die Literatur war wieder öffentliche Angelegenheit geworden, auch in nüchternerem Ton gehaltene historische Rückblicke würdigen dieses öffentliche, politische Engagement. (TIZENÖT 1974, 62; POMOGÁTS

1982, 61; IRODALMI 1981, 182) Doch wird die Sicht auf das literarische Leben und die Literaturproduktion der sechziger Jahre auch als Problem des eigenen Standorts, des eigenen Werdens bewußt: Man müsse „hinzufügen, daß heute diejenigen beim Gedanken an die geistige Atmosphäre der sech-ziger Jahre Nostalgie empfinden, die damals jung waren." (BATA 1979, 149) So sei es vielleicht erforderlich, „diese Werke... heute...aufs neue zu lesen, um zu sehen, ob wirklich jedes von solchem Wert ist, wie wir uns dessen entsinnen." (SZABOLCSI 1981, 153)

Ausgehend von diesem PeriodisierungsVerständnis wurden hier Werke ausgewählt, die wesentliche Positionen in diesem Zeitraum vertreten und die sowohl Grundsätzliches im Anliegen wie auch die Breite des Spektrums der Fragestellungen und künstlerischen Konzeptionen wenigstens andeuten kön-nen. Die Auswahl orientierte sich dabei an zeitgenössischen Diskussionen um einzelne Werke, ebenso an der symptomatischen Wertschätzung anderer Werke und Autoren wie auch an späterem vertieften Verständnis jenem Zeitraum angehörender Werke im Kontext sich abzeichnender größerer natio-nalliterarischer Entwicklungszusammenhänge und eines vertieften Begreifens der Funktionen von Literatur in der Gegenwart

So sind die vorgestellten Werke von unterschiedlichem ästhetischen Wert -ein Tatbestand, der die eben erwähnten Akzentverschiebung in Literaturkritik, -Wissenschaft und Kulturpolitik widerspiegelt und der in den Einzeluntersuchun-gen deutlich wird. Es wurde sowohl ausgewählt, was als Leistung aus heutiger

Sicht Gültigkeit behält, als auch, was durchaus in Abweichung davon -geeignet ist, das Spektrum des Romanschaffens der sechziger Jahre zu

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kumentieren. Eingehend vorgestellt werden im folgenden Romane mit Gegen-wartsthematik von Imre Sarkadi (Feigheit, 196o), Lajos Mesterházi (Der vier-beinige Hund, 1961), Endre Fejes (Schrottplatz, 1962), Magda Szabó (Pilatus,

1963), Gyula Fekete (Der Tod des Arztes, Die treue Frau und das schlimme Weib, 1963), József Darvas (Trunkener Regen, 1963), Ferenc Sánta (Zwanzig Stunden, 1964), Sándor Somogyi Tóth (Du warst ein Prophet, mein Herz, 1965), Miklós Mészöly (Der Tod des Athleten, 1966), György Konrád (1969).

Besondere Berücksichtigung innerhalb des mit der stofflich-thematischen Ein-grenzung gezogenen Kreises fanden daneben Arbeiten von Fekete, Galambos, Galgóczi, Hernádi, Jókai, Kertész, Mesterházi, Molnár, Moldova, Sarkadi, Sza-bó, Szász und Vészi, darüber hinaus in den sechziger Jahren und ihrem Umfeld erschienene Werke von Cseres, Déry, Mészöly, Ottlik, Örkény u.a..

Diese Aus Wahlprinzipien, das dahinterstehende Verständnis des Zusam-menhangs von gesellschaftlicher Entwicklung und Literaturprozeß lassen es angebracht erscheinen, die Werke zunächst in der Reihenfolge ihres Erschei-nens zu untersuchen. Mitunter divergieren der Zeitpunkt der Abfassung und der des Erscheinens (unter den ausführlich Vorgestellten bei Mészöly, Sza-bó, Konrád). Die aktuelle Gegenwart des Autors, wie sie in das Schreiben mit Eingang fand, ist damit eine andere als die im Kontext seiner Verbrei-tung, dieser Umstand muß bei seiner Deutung und Wertung berücksichtigt werden. Hier wurde dennoch für die mit der Jahreszahl im Buch gegebene Abfolge entschieden, weil ein Werk erst sein spezifisches „Leben" beginnt, wenn es zur Rezeption zugänglich ist, wenn es in den Prozeß jener Um-verteilung von Erfahrung, der oben beschrieben wurde, eintritt.

2. Einzeluntersuchungen

2.1. Suche nach Lebensgenuß im Konflikt zwischen eigener