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4. Zäsuren kommunistischer Journalistengeschichten

4.1 Verfolgung und Widerstand – Kommunistische Schicksale

4.1.2 Als Französin getarnt in Wien – Antonie Lehr

Die Widerstandskämpferin Antonie Lehr, geboren 1907 in Czernowitz, war ab 1923 Mitglied der Sozialistischen Arbeiter-Jugend und trat 1927 der KPÖ bei. Sie gehörte zu jener Gruppe an Widerstandskämpfern und -kämpferinnen, die – wie bereits erwähnt –

342 Akten der Journalistengewerkschaft Wien, Personalakt Georg Breuer.

343 Frank (Hg.), Young Austria, 77.

344 Akten der Journalistengewerkschaft Wien, Personalakt Rosa Breuer, Schreiben des Globus-Verlages an die Gewerkschaft, Sektion Journalisten vom 6.11.1958.

345 Fischer, Das Wichtigste ist, sich selber treu zu bleiben, 199.

346 Die „Ostermarschbewegung“ veranstaltete von 1963 bis 1968 jährlich zu Ostern Friedensmärsche gegen die Atomgefahr.

347 S. Breuer, Rückblende, 207–238.

1943 als „französische Fremdarbeiter“ getarnt von Frankreich aus zurück nach Österreich reisten, um den kommunistischen Widerstand im Land zu unterstützen, obwohl sie unter dem NS-Regime aufgrund der nationalsozialistischen Gesetze als Juden und Jüdinnen diskriminiert und rassistisch verfolgt wurden.

Nach ihrem Studium an der Hochschule für Welthandel in Wien ging Lehr nach Moskau um in der Komintern zu arbeiten. 1933 kehrte sie nach Wien zurück, wurde illegale Funktionärin der KPÖ und war für den Nachrichtenapparat der Komintern tätig:

„Die Verantwortlichen haben mich davon überzeugt, daß ich durch meine gesellschaftliche Stellung besonders geeignet bin für eine solche Arbeit, weil ich ja als bürgerliches Mädchen in einem bürgerlichen Hause lebte, und daher die Frage nie aufgekommen wäre: Wovon lebt diese Frau eigentlich?“348

Sie brach daraufhin alle Kontakte zu früheren Freunden ab und traf nur mehr Leute aus dem Apparat der Komintern. Ihre Aufgabe bestand darin, Kontakte zwischen der Moskauer Zentrale und einzelnen Parteien in anderen Ländern zu organisieren. Über eine Radiostation wurden chiffrierte Telegramme zwischen Moskau und Wien hin und her gesendet. Am 30.

November 1934 verließ Lehr Wien zuerst Richtung Prag, danach Richtung Paris. Dort gehörte sie einer Widerstandsgruppe an, die unter anderem die illegale Zeitung „Soldat im Westen“ herstellte und verbreitete (Travail Anti-Allemand). 1943 wurde beschlossen, Widerstandskämpfer und -kämpferinnen getarnt nach Österreich zu schicken – eine von ihnen war Antonie Lehr:

„Ich bin am 31. August 1943 in ein Rekrutierungsbüro [für Arbeit in Betrieben in Deutschland] gegangen, habe erklärt, daß ich nach Deutschland gehen möchte, denn mein Bräutigam ist eingezogen, er arbeitet in Wien und ich will natürlich auch nur nach Wien gehen, um dort mit ihm beisammen sein zu können. Sie waren unerhört höflich, waren sehr erfreut über jeden Franzosen, über jede Französin, die sich freiwillig meldet, nach Deutschland zu gehen.“349

Als Annette Lutterbach aus Lothringen – Lehr wollte für alle Fälle ihre Initialen behalten – verließ sie Paris, um als Übersetzerin in der Floridsdorfer Lokomotivfabrik in Wien zu arbeiten.

348 Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (Hg.) Erzählte Geschichte. Band 1:

Arbeiterbewegung, 77.

349 Ebda, 243–244.

Susanne Wantoch (1912–1959), Schriftstellerin und Redakteurin der „Österreichischen Volksstimme“, hat auf 24 maschinengeschriebenen Seiten die Erlebnisse ihrer Kollegin Antonie Lehr als „getarnte Französin“ Annette Lutterbach festgehalten, alle „Einzelheiten dieser denkwürdigen Geschichte sind der Wirklichkeit nacherzählt, doch nicht in photographischer Treue, sondern als ein Gemälde, das die verschiedenen Gestalten etwas freier behandelt“.350

Annette Lutterbach stieg 1943 in einem Pariser Bahnhof in einen Fremdarbeitertransport Richtung Wien, der zum größten Teil aus Frauen bestand:

„Wie es in einer Gesellschaft von fragwürdigen Existenzen oft der Fall ist, daß ein unverdorbener Mensch besonderes Interesse erregt, so stand die brünette Französin bald im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Die Frau zierte sich auch nicht lange und die Mitreisenden erfuhren bald, daß sie Annette Lutterbach hieß, aus Lothringen stammte und sich freiwillig nach Deutschland – oder genauer gesagt, in die Ostmark – gemeldet hatte, weil ihr Bräutigam, ein deutscher Soldat, der an der Ostfront stand, Wiener war und sie Sehnsucht hatte, seine Heimat, die ja auch einmal die ihre sein werde, kennenzulernen.“351

Lutterbach wurde als Dolmetscherin im Büro der Lokomotivfabrik Floridsdorf eingeteilt, da sich herausstellte, dass sie nicht nur sehr gut deutsch sprach, sondern auch Maschineschreiben und Stenographie beherrschte.

„Mit der gleichen Selbstverständlichkeit, mit der sie sich als Dolmetscherin im Büro etabliert hatte, ging Fräulein Annette daran, sich ein privates Quartier zu suchen, ohne vorher die Erlaubnis der verschiedenen Instanzen einzuholen. ,Ich kann es nicht länger ertragen‘, sagte sie, sich für ihre Eigenmächtigkeit entschuldigend, zu Herrn Klein [ihr Vorgesetzter]. ,Sie können sich nicht vorstellen, was das für ein Gestank und Schmutz in den Baracken ist. Wie soll ich tagsüber die Arbeit bewältigen, wenn ich in der Nacht keinen Schlaf finde?‘“352

Lutterbach beantragte sogar erfolgreich Urlaub, da sie die Hochzeit ihrer Schwester in Paris besuchen wolle. Daraufhin verbreiteten sich erste Gerüchte im Betrieb, doch Lutterbach kehrte pünktlich nach Ende des Urlaubs an ihre Arbeitsstelle in Wien zurück. Wenig später tauchten kommunistische Flugzettel in der Lokomotivfabrik auf.

350 DÖW-Dokument 23, 1. – Dieses Dokument wurde nach Informationen der Verfasserin bisher noch nicht wissenschaftlich aufgearbeitet. Bei dem 24-seitigen Text handelt es sich um die (literarische) Nacherzählung der Lebensgeschichte von Antonie Lehr (Annette Lutterbach). Er enthält fiktive, literarische Elemente (wie beispielsweise die Gedanken der Annette Lutterbach), basiert aber auf realen Geschehnissen. Es ist nicht bekannt, wann der Text entstanden ist und ob Antonie Lehr ihn autorisiert hat. Wantoch und Lehr waren zwischen 1953 und 1959 Kolleginnen in der Redaktion der „Österreichischen Volksstimme“.

351 Ebda, 2–3.

352 Ebda, 5.

„Und es gab an einem schönen Maisonntag einen reizenden Betriebsausflug nach Grinzing, bei dem Herr Klein und andere Beamte des Betriebs dem Fräulein Annette die Schönheiten alter Brunnen und Baudenkmäler erklärten. Wieder, wie beim Volksliederabend, stand diese nicht besonders hübsche und auch nicht mehr ganz junge sprachgewandte Französin im Mittelpunkt der Gesellschaft. Das Kunstverständnis und die Sachkenntnisse, mit der sie alles betrachtete, waren auch wirklich erstaunlich. Sie habe schon an der Sorbonne, der Pariser Universität, Wiener Kunstgeschichte studiert, erklärte die Lothringerin bescheiden, daher stammten ihre Kenntnisse ...“353

Am 4. Juli 1944 wurde Lehr alias Annette Lutterbach von der Gestapo verhaftet. Man hatte unterdessen genug Material über die „falsche Französin“ zusammengetragen – Protokolle der Wiener Polizei, die bis zum Jahr 1932 zurückreichten, die Dossiers des französischen Geheimdienstes, „die die Identität der angeblichen Annette Lutterbach mit dem lange gesuchten Mitglied der Untergrundbewegung A. eindeutig feststellten.“354

„,Warum erschießen Sie mich nicht gleich?‘, fragte die Frau. Ihr Gesicht war verschwollen, ihre hübschen, dunkelbraunen Haare mit den dünnen Silberfäden waren mit Blut verklebt, ihr Kleid verschmutzt, an mehreren Stellen zerrissen. Nur den Augen hatte man nichts anhaben können. Sie starrte unnatürlich groß aus dem schmalen, totenblassen Gesicht.“355

Vor ihrem Einsatz als französische Fremdarbeiterin in Österreich war es Lehrs Aufgabe in Paris gewesen, gemeinsam mit anderen Frauen, Kontakt zu deutschen Soldaten herzustellen um Aufklärungsarbeit unter den deutschen Besatzungstruppen zu leisten. Im Gestapo-Gefängnis dachte sie an diese Zeit in Paris zurück:

„Es war November, Ende November, strömt die Erinnerung in breitem Wellengang durch Annettes Bewußtsein. Von den Bäumen tropfte es träge. Wir saßen auf einer Steinbank in den Tuilerien, froren erbärmlich und warteten auf unsere Chance. Mir kamen schon wieder die Tränen in die Augen – vor Kälte, vor Müdigkeit, vor Sehnsucht nach Franz [Lehrs Mann], von dem ich über ein Jahr wieder getrennt war. Bis mir Lisl [ebenfalls Widerstandskämpferin] einen kräftigen Rippenstoß versetzte, der mich zum Lächeln bringen sollte. Es war auch höchste Zeit. Vom Parkeingang her kamen zwei deutsche Soldaten marschiert. Fünf Minuten später waren wir schon im Gespräch.“356

Verlief das Gespräch positiv, wurden den Soldaten Ausgaben der illegalen Zeitung „Soldat im Westen“ mitgegeben, um diese in den Kasernen zu verteilen: „Seit Stalingrad war unsere Arbeit leichter, fruchtbarer geworden. ,Wie Löschpapier kommen mir manche Leute

353 DÖW-23, 9.

354 Ebda, 12.

355 Ebda.

356 Ebda, 15.

vor‘, sagte ich einmal zu Franz. ,Sie trinken unsere Worte ein, als hätten sie darauf gewartet.‘“357

Nach ihrer Verhaftung in Wien wurde „Annette Lutterbach“ im November 1944 in das Konzentrationslager Auschwitz gebracht, im Jänner 1945 in das KZ Ravensbrück.

„Die letzte Etappe ist schnell erzählt. Die Russen kommen, Auschwitz wird Mitte Jänner evakuiert. Zwei Tage, zwei Nächte werden die Insassinnen des Frauenlagers zu Fuß durch den Schnee von Polen gegen Deutschland getrieben, am dritten Tag auf offenen Kohlenwagen verladen, am sechsten Tag vor dem Lager Ravensbrück vom Morgen bis zum Abend und vom Abend bis zum Morgen im Freien, ohne Dach und Schutz stehen gelassen.

Annette spürt die Kälte nicht. Ihr Gesicht glüht, ihr Körper brennt. Auschwitz hat ihr als Abschiedsgeschenk den Typhus mit auf den Weg gegeben.“358

I m K Z R a v e n s b r ü c k s c h m u g g e l t e n F r e u n d i n n e n d i e K r a n k e i n d i e Rekonvaleszentenbaracke:

„Wozu plagt ihr euch um einen zum Tod verurteilten Menschen? Kennt ihr nicht den Vermerk, der den Schutzhäftling Annette – ebenso wie ihre österreichischen Kameradinnen G. und E. – von Lager zu Lager begleitet: ,Rückkehr unerwünscht‘? Der Hinrichtungstermin ist ja schon festgesetzt, am nächsten Morgen, um 9 Uhr früh, sollen die drei der Politischen Abteilung vorgeführt werden.“359

Daraufhin wurden Lutterbach bzw. Lehr und die beiden anderen Frauen von Mithäftlingen, einer illegalen Lagerorganisation, versteckt.360 Von einer polnischen Chirurgin, ebenfalls Häftling, wurde Antonie Lehr die Auschwitz-Nummer am Arm operativ entfernt; sie bekam die Nummer einer Französin. Im April 1945 wurde sie wiederum als angebliche Französin im Zuge einer Austauschaktion von Kriegsgefangenen aus dem Lager geschmuggelt und nach Schweden gebracht. Nach drei Monaten in Schweden, kam Lehr wieder nach Paris.

„Ich war wahnsinnig begierig, da [in Österreich] mitzuarbeiten, mitzuhelfen und in die Heimat zurückzukommen.“361 Sie erreichte Ende August 1945 Wien. Einen Tag nach ihrer Ankunft begann Lehr als Sekretärin von Johann Koplenig zu arbeiten. Ab 1953 war sie Redakteurin der „Österreichischen Volksstimme“.

357 Ebda, 17.

358 DÖW-23, 22.

359 Ebda, 23.

360 Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (Hg.) Erzählte Geschichte. Band 1:

Arbeiterbewegung, 311.

361 Ebda, 313.