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Die U nvergleichbarkeit des Gleichen bzw. die Gleichheit des Unvergleich­

baren verwirklicht sich nicht weniger auffallend auf der Ebene der Form und der Sprache, als au f der Ebene des Stoffes.

W ie man au f den ersten Blick feststellen kann, bedienen sich beide Dichter des Blankverses, der in Deutschland seit Lessings Nathan als einzig angemessene

15 Kleist an Marie von Kleist. Dresden, Spätherbst 1807: “Sie hat ihn wirklich aufgegessen, den Achill, vor Liebe." [Herv. I.K.) - Wie Anm 3, Bd.2., S.796. Übrigens: Penthesileas Tat ist nichts anderes als die

"Einverleibung" des Geliebten, somit die irreversible, d.h. ewige Vereinigung der beiden Körper, vergleichbar etwa mit dem heiligen Abandmahl im Ritual der katholischen Kirche.

16 Vgl. Sz o n d i, Peter: Versuch über das Tragische. - In: De r s.: Schriften. Bd. 1. - Frankfurt/M 1978.

17 Kleist an Marie von Kleist. Dresden, Spätherbst 1807: "Erschrecken Sie nicht, es [Penthesilea, I.K.]

läßt sich lesen. [...] Es ist hier schon zweimal in Gesellschaft vorgelesen worden, und es sind Tränen geflossen, soviel als das Entsetzen, das unvermeidlich dabei war, zuließ." - Wie Anm.3, Bd.2, S.796. -

"Tränen" ließe sich noch etwa mit "Rührung" in die konventionelle Sprache der Dramaturgie rückübersetzen. Daß Kleist sich aber mit seinem "Entsetzen" tatsächlich in der Nähe des Aristoteles bewegt, beweist ein anderer Satz desselben Briefes: "Ihre (der Frauen, I.K.] Anforderungen an Sittlichkeit und Moral vernichten das ganze Wesen des Dramas, und niemals hätte sich das Wesen des griechischen Theaters entwickelt, wenn sie nicht ganz davon ausgeschlossen gewesen wären."

18 Zur Bedeutung der Aristotelischen Begriffe “eleos" und "phobos" vgl. u.a. Fu h r m a n n, Manfred:

Nachwort. - In: Aristoteles: Poetik. Griechisch/Deutsch. Stuttgart 1982, insbesondere S.161ff.

Form des ernsten Dramas gilt. Während aber Goethes Handhabung des Blankver­

ses - und nicht zu vergessen wäre hier auch der jahrelange Kampf, den er um die angemessene Form geführt hat - in beinahe beispielhafter Weise das bestätigt, was Schiller in seinem B rief an den W eimarer Freund vom 24. November 1797 mit so bestechender Eindeutigkeit und Nachdrücklichkeit formuliert hat: daß nämlich Verse nolens volens eine vereinheitlichende und harmonisierende W ir­

kung ausüben19, ist Kleists Text höchstens dazu geeignet, die Schillersche Regel als A usnahm e zu bestätigen. Indem Kleist nämlich den jam bischen Fünfheber förmlich zerbricht - er verteilt einen Vers oft auf drei, manchmal sogar auf vier Repliken, während bei Goethe fast jede Replik mindestens einen vollständigen fünfhebigen Vers beträgt20 -, produziert er eine Unruhe, eine Spannung, die selbst in der Prosaform kaum herbeizuführen wäre.21

19 Im Brief heißt es: "Ich habe noch nie so augenscheinlich mich überzeugt als bei meinem jetzigen Geschäft [ Wallenstein, I.K.], wie genau in der Poesie Stoff und Form, selbst äußere, zusammen hängen.

Seitdem ich meine prosaische Sprache in eine poetisch-rhythmische verwandle, befinde ich mich unter einer ganz anderen Gerichtsbarkeit als vorher (...]. Man sollte wirklich alles, was sich über das Gemeine erheben muß, in Versen wenigstens anfänglich konzipieren, denn das Platte kommt nirgends so ins Licht, als wenn es in gebundener Schreibart ausgesprochen wird [...]. Der Rhythmus leistet bei einer dramatischen Produktion noch dieses Große und Bedeutende, daß er, indem er alle Charaktere und alle Situationen nach einem Gesetz behandelt und sie, trotz ihres innem Unterschiedes, in einer Form ausfiihrt, dadurch den Dichter und seinen Leser nötiget, von allem noch so Charakteristisch- Verschiedenen etwas Allgemeines, rein Menschliches zu verlangen. Alles soll sich in dem Geschlechtsbegriff des Poetischen vereinigen, und diesem Gesetz dient der Rhythmus sowohl zum Repräsentanten als zum Werkzeug, da er alles unter seinem Gesetz begreift. Er bildet auf diese Weise die Atmosphäre für die poetische Schöpfung, das Gröbere bleibt zurück, nur das Geistige kann von diesem dünnen Elemente getragen werden." - In: Der Briefwechsel zwischen Goethe und Schiller. Bd. 1.

Hg. von Siegfried Seidel. - Leipzig 1984, S.439f. [Hervorhebungen im Original ]

20 Im Letzten Auftritt der Penthesilea findet sich sogar eine Stelle, wo Kleist mit fragmentarischen Versen arbeitet. - Vgl. Wie Anm.3, B d.l, S.426.

21 Vgl. dazu schon Fr e y t a g, Gustav: Die Technik des Dramas. 7. Aufl. - Leipzig 1894, S .2 8 4 f: "Jeder Stimmung der Seele hat der Vers sich gehorsam zu bequemen, jeder soll er sowohl durch seinen Rhythmus als durch die logische Verbindung der Satzeinheiten, welche er zusammenschließt, zu entsprechen suchen. Für ruhige Empfindung und feine Bewegung, welche getragen und würdig oder in heiterer Lebendigkeit dahinzieht, hat er seine reinste Form, den schönsten Wohlklang, einen gleichmäßigen Fluß zu verwenden. In solcher ruhiger Schönheit gleitet gern der dramatische Vers Jambus bei Goethe dahin. (...) Aber stürmischer, wilder wird der Ausdruck der Erregung, der rhythmische Lauf des Verses scheint vollständig gestört, immer wieder klingt ein Redesatz aus dem Ende eines Verses in den Anfang des ändern, bal<J hier, bald dort wird ein Stück des Verses thcils zum Vorhergehenden, theils zum Folgenden gerissen, Rede und Gegenrede zerhacken das Gefüge; das erste Wort und das letzte - zwei bedeutungsvolle Stellen - springen los und treten als besondere Glieder in die Rede, der Vers bleibt unvollendet, statt dem ruhigen Wechsel weicherer und härterer Endungen folgen längere Versreihen mit dem männlichen Abfall, die Verscäsur ist kaum noch zu erkennen, auch in diejenigen Senkungen, über welche beim regelmäßigen Lauf des Rhythmus schnell dahinschwcbcn muß.

dringen mächtig schwere Wörter, wie chaotisch bewegen sich die Thcilc des Verses durcheinander. Das ist der dramatische Vers, wie er in den besten Stellen Kleist's, trotz aller Manier in der Sprache des Dichters, die mächtigste Wirkung ausübt..."

Was außerdem noch die Sprache betrifft: Sie ist in Goethes Drama - der klassischen Tradititon und der geschlossenen Form22 entsprechend - relativ ein­

heitlich, ausgeglichen und hochstilisiert; der Text verwirklicht dabei ein beispiel­

haftes Gleichgewicht von Aktion und Diktion. Die Sprache fungiert im Drama nicht bloß als Mittel der - übrigens ungestörten - Kommunikation zwischen den dramatischen Personen (wobei der Text sich in den wohlgeformten Sätzen und Monologen des "wahnsinnigen" Orest an manchen Stellen beinahe ad absurdum führt); sie gilt nicht zuletzt auch als einziges Mittel der Erziehung des M enschen­

geschlechts zur Humanität:

"IPHIGENIE.

Laß ab! Beschönige nicht die Gewalt, Die sich der Schwachheit eines Weibes freut Ich bin so frei geboren als ein Mann.

Stünd' Agamemnons Sohn dir gegenüber Und du verlangtest, was sich nicht gebührt:

So hat auch er ein Schwert und einen Arm, Die Rechte seines Busens zu verteid'gen.

Ich habe nichts als Worte, und es ziehmt Dem edlen Mann, der Frauen Wort zu achten.

THOAS.

Ich acht' es mehr als eines Bruders Schwert."

(Iphigenie a u f Tauris, V/3 ., Herv. I.K.)23

Kleists dram atische Sprache hingegen, zwar nicht weniger hochstilisiert, ist alles andere als ausgeglichen: Sie ist eine einzige, unaufhaltsame Flut von Bildem. Der Schwerpunkt verlagert sich, so sonderbar es sich zunächst auch anhören mag, von der Aktion aufs Sprechen: Penthesilea ist ein Schlachtendrama ohne Schlachten, denn beinahe alles, was geschieht, geschieht h in te r der Szene und erreicht den Zuschauer erst in Form von Botenberichten und Teichoskopien, also allenfalls sprachlich vermittelt. Kleists Text setzt den Zuschauer au f diese W eise einem permanenten Bombardem ent durch Bilder aus, dessen Funktion darin besteht, seine - des Lesers/Zuschauers - Phantasie zu entfesseln, und - wenn er, wie zu erwarten, nicht m ehr mitzuhalten, d.h. nicht all die blitzschnell aufeinander fol­

genden Bilder visuell nachzuvollziehen vermag - den Eindruck des Chaotischen in ihm entstehen zu lassen. Die Wirkung ist - wie selbst Leser, die das Stück nie auf der Bühne gesehen haben, bestätigen können - enorm, aber au f jeden Fall

22 Vgl. K lo tz , Volker: Geschlossene und offene Form im Drama. - München 1985.

23 In: Goethes Werke. Bd.5. Hamburger Ausgabe. Hg. von Erich Trunz. - München 1974, S.58.

größer, als wenn eine direkte szenische Präsentation die Phantasie des Zuschau­

ers fesseln würde. W as also Goethe über den Zerbrochnen Krug gesagt hat: "daß das Stück [...] dem unsichtbaren Theater angehört"24, gilt - wenigstens in diesem Sinne - nicht w eniger auch für die Penthesilea.

D arüber hinausgehend ist die Sprache bei Kleist, in krassem Gegensatz zur Iphigenie, eine Q uelle von tödlichen Mißverständnissen:

"PENTHESILEA.

- So war es ein Versehen. Küsse, Bisse, Das reimt sich, und wer recht von Herzen liebt, Kann schon das eine für das andre greifen.

[...]

Du Ärmster aller Menschen, du vergibst mir!

Ich habe mich, bei Diana, bloß versprochen, Weil ich der raschen Lippe Herr nicht bin;

Doch jetzt sag ich dir deutlich, wie ichs meinte:

Dies, du Geliebter, wars, und weiter nichts Sie küßt ihn."

{Penthesilea, 24., Herv. I.K.)25

W ir wissen alle wohl - was Kleist übrigens auch wenigstens geahnt haben muß was ein Versprecher im Freudschen Sinne an- und bedeutet: Sprachliche Kom­

munikation zwischen den dramatischen Personen funktioniert in Kleists W elt nicht, schon deshalb nicht, weil sie im Zustand des Außer-sich-Seins, d.h. wenn ihr Unbewußtes exzessiv hervorbricht, oft verstummen - stummes Spiel, Panto­

mime erhalten eben deshalb in Penthesilea ein ungewöhnlich beträchtliches G e­

wicht.

3. Struktur

W ie bereits angedeutet, betrachte ich Goethes Iphigenie als beispielhafte Verwiklichung der klassisch-aristotelischen Dramaturgie: Der Autor beachtet die drei "klassischen" Einheiten von Ort, Zeit und Handlung; er arbeitet mit einer minim alen Anzahl von dramatischen Personen, die eine sozial homogene Gruppe bilden und demzufolge eine einheitliche, vornehme und hochstilisierte Sprache sprechen; er hält sich streng an das herkömmliche 5-Akte-Schema, wobei jedem Akt klar gegeneinander abgesetzte Handlungsmomente entsprechen.

24 Goethe an Adam Müller. Karlsbad, 28. August 1X07. - ln: Wie A nm .l, Bd.3, S.53. - Vgl. dazu auch Kleists Brief an Goethe, Dresden, 24. Januar 1808: "Es [Penthesilea, l.K.) ist übrigens ebenso wenig für die Bühne geschrieben, als jenes frühere Drama der Zeibrochne Knig. . .“ - Wie Anm 3, Bd.2, S.805.

25 Wie Anm.3, Bd. 1, S.425f.

Kleists Penthesilea scheint demgegenüber nichts als ein geradezu undurch­

dringliches Chaos zu sein. Betrachtet man jedoch das Stück etwas gründlicher, stößt man bald au f einige Anzeichen der Ordnung im Chaos; man wird also fin­

den, daß das Chaos vielleicht doch etwas weniger chaotisch ist, als es au f den ersten Blick scheint.

V or allem: Das Drama besteht aus 24 Auftritten, ohne Akteinteilung. Auf­

fällig dabei ist, daß die Einteilung des Textes in gerade 24 Auftritte in hohem Maße willkürlich, also keinesfalls zufällig ist: dadurch intendiert Kleist wohl die Festlegung der gespielten Zeit au f die Dauer eines mythischen Tages (24 Stun­

den), er verwirklicht also ganz präzise das, was in der klassisch-aristotelischen Dramaturgie als Forderung nach der Einheit der Zeit bekannt ist.

Außerdem ist auch die Einheit des Ortes im Drama beinahe akribisch ver­

wirklicht: Das wechselvolle Schlachtgeschehen legt es allerdings nahe, den Ort als einheitlich zu denken bzw. denken zu dürfen, und im ganzen Stück findet sich tatsächlich nicht mehr als eine einzige Stelle, wo die Aufrechterhaltung dieser

"klassischen" Einheit auch prinzipiell unvorstellbar ist.26

W as freilich nun die Einheit der Handlung betrifft, fällt sie als dramaturgi­

sches Prinzip in Bezug auf Kleists Text ganz und gar weg: Penthesilea schließt ja von Anfang an jede M öglichkeit aus, mit dem herkömmlichen Handlungsbegriff der klassisch-aristotelischen Dramaturgie - von Lessing definiert als "Kette von Ursachen und Wirkungen" 27 - zu operieren. Der Grund dafür scheint mir ganz evident zu sein: Das exzessive Hervorbrechen des Unbewußten zerbricht die her­

kömmliche, lückenlose logisch-kausale und bewußtseinspsychologische M otiva­

tionskette der traditionellen Dramaturgie.

Hinsichtlich ihrer Struktur stehen die beiden Dramen also wiederum im merkwürdigen Verhältnis der Unvergleichbarkeit des Gleichen bzw. der G leich­

heit des Unvergleichbaren.

4. Die d ram atisch en Personen und ihre K onfiguration

Ich schließe damit, womit ich eigentlich hätte beginnen sollen: In beiden Dramen steht eine Frauengestalt im Mittelpunkt; die Optik des Rezipienten wird in beiden Fällen bereits durch den Titel auf sie eingestellt.

Um Iphigenie herum gruppieren sich die übrigen Figuren in Goethes Drama nach einer streng symmetrischen und hierarchisch-pyramidalen Ordnung (auf ei­

26 Die Bruchstelle befindet sich zwischen dem 2 0 und dem 2 1 . Auftritt: ln 2 0 erscheint Achills Herold bei den Amazonen; in 21 ist er wieder im griechischen Lager.

27 Le s s in g, Gotthold Ephraim: Hamhurgische Dramaturgie. - In: Df.r s.: Werke. B d .4. Dramaturgische Schriften. Hg. von Herbert G. Göpfert. - Darmstadt 1973, S.368. (30. Stück)

ne Beweisführung, die sich im Rahmen einer strukturalistischen Argumentation unschw er bewerkstelligen ließe, möchte ich diesmal verzichten); in ihrer K onfi­

guration m anifestiert sich ein scheinbarer Gegensatz von zwei W elten (Griechen und Barbaren). Der Gegensatz, ich möchte es noch einmal betonen, ist ein bloß scheinbarer: Die Barbaren entpuppen sich bald als verkappte Humanisten, sie sind im Grunde genauso "verteufelt human"28 wie auch alle anderen Personen dieses Dramas, oder sie lassen sich wenigstens - Goethes klassischem O ptim is­

mus entsprechend - unschwer und ohne weiteres zur Humanität erziehen.

Kleists Penthesilea gestaltet ebenfalls einen wiederum bloß scheinbaren Antagonismus von zwei Welten: Der bereits in der Iphigenie verwirklichte G e­

gensatz von G riechen und Barbaren (diesmal Amazonen) wird hier jedoch von einem anderen, womöglich noch elementareren überspielt bzw. verdeckt: von dem zwischen Mann und Frau.29 Der Gegesatz entpuppt sich aber auch hier als bloß scheinbar: im "unweiblichen", "unnatürlichen"''0 Amazonenstaat ist alles ebenso erbarmungslos w ie in der M ännerwelt der Griechen einzig und allein der omnipotenten, totalitären Staatsräson unterworfen, repräsentiert durch Dianas Oberpriesterin, w as auch Goethes Iphigenie war, die aber von Kleist aus der Sphäre des Heiligen in die des Sozialen ver-rückt (!) wird.

Eine wirklich symmetrische und streng hierarchisch-pyram idale Konfigura­

tion der dram atischen Personen sucht man in Kleists Penthesilea vergeblich: H in­

ter scheinbaren Symmetrien und angeblich verläßlichen Hierarchien macht sich im m er w ieder das Chaotische, das Unbezähmbare, letzten Endes die unberechen­

bare und anarchische Gewalt des Körpers und der Seele bemerkbar.

Ich hoffe, es ist mir einigermaßen gelungen, den Beweis dafür zu erbringen, daß G oethes Iphigenie und Kleists Penthesilea wirklich im merkwürdigen Verhältnis der Unvergleichbarkeit des Gleichen bzw. der Gleichheit des Unvergleichbaren stehen, daß also K leist mit den M itteln einer insgesamt klassisch zu nennenden Dramaturgie etwas völlig Antiklassisches zustande bringt. Das, das A ntiklassi­

sche und Antiklassizistische, wäre demnach auch der literaturhistorische Ort, den ich aufzusuchen und zu bestimmen versprochen habe. Die zwei Dramen liegen, und dam it möchte ich zu meinem Ausgangspunkt zurückkehren, nicht m ehr nur

28 Goethe an Schiller Jena, 19. Januar 1802. - Wie Anm.19, Bd.2, S.387.

29 Wie das oben aus der Iphigenie angeführete Zitat zeigt, ist der Gegensatz von Mann und Frau auch bei Goethe latent vorhanden, aber er wird im Drama "humanisierend" aufgehoben.

30 Vgl. Achills Replik im 15. Auftritt der Penthesilea. - Wie Anm.3, Bd 1, S.387.

zwei Jahrzehnte auseinander: Es ist beinahe eine ganze Welt, die sie trennt. W äh­

rend der Leser von heute, wie ich die Erfahrung habe machen können, Goethes Iphigenie intuitiv einer fernen und beinahe idyllisch verklärten Vergangenheit zuordnet, vermag er in Kleist seinen Zeitgenossen zu finden. Den letzten Grund dafür meine ich darin erblicken zu dürfen, daß Kleist einen radikalen Bruch vollzieht: An der Schwelle zur Moderne stehend, indem er theoretisch das Ethi­

sche vom Ästhetischen trennt und somit die "klassische" Dreifaltigkeit des W ah­

ren, Guten und Schönen attackiert31, verabschiedet er das optimistische M en­

schenbild der deutschen Klassik, das alles Dunkle und Unbezähmbare aus dem Menschen, der ja vor allem ein sittliches Wesen zu sein hat, verbannt; er verab­

schiedet den naiven, aufklärerischen und aufgeklärten Glauben an eine Vernunft, die in ihrer maßlosen Selbstsicherheit meint, die Erziehung des M enschenge­

schlechts in absehbarer Zeit in die Wege leiten zu können.

Das Schicksal, das in der Iphigenie noch als etwas Äußerliches, als so oder so interpretierbares Gebot der Götter erschien, verlegt Kleist in das Innere des Menschen, in die unergründlichen Tiefen seiner Psyche:

"DIE OBERPRIESTERIN [...] Unmöglich, Da nichts von außen sie, kein Schicksal hält, Nichts als ihr töricht Herz

-PROTHOE Das ist ihr Schicksal!

Dir scheinen Eisenbanden unzerreißbar, Nicht wahr? Nun sieh: sie bräche sie vielleicht, Und das Gefühl doch nicht, das du verspottest.

Was in ihr walten mag, das weiß nur sie, Und jeder Busen ist, der fühlt, ein Rätsel"

(.Penthesilea, 9.)32

31 Vgl den uiucr Anni 17 zitierten Brief an Marie von Kleist.

32 Wie Anm.3, Bd. 1, S.364f.

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Da n i e l La n y i ( Bu d a p e s t) Di e Fa s z i n a t i o n d e s Le s e n s

Stifters Der Kondor

Es waren nicht viele, die mir das Lesen des W elt-Textes beigebracht haben, die heute Geehrte ist eine von ihnen. Und da ich jetzt auch einer geworden bin, der sich anmaßt, das zu lehren, wie zu lesen sei, scheint es mir nur allzu berechtigt, gerade in diesem K reise über das Lesen zu sprechen.1

W ozu noch lesen, und warum noch M enschen beizubringen, wie zu lesen sei, lautet die unumgängliche Frage, die man sich, den neuen Herausforderungen der W elt stellend, beantworten muß. Verläßt man, zum einen, den Elfenbeinturm der Universität, kann man nicht umhin, diese die Legitimität des Lesens erfor­

schende Frage ernst zu nehmen. W as soll denn noch das Lesen, um das es hier geht, für eine Rolle spielen in einer Welt, deren Paradigma die binäre Opposition geworden ist?2 Die Texte sind natürlich auch auf der Informationsautobahn zu lesen, von einem komplizierten Verweisungsverhältnis kann hier aber nicht die Rede sein. M ichael Jackson und Madonna w ollen auch nicht m ehr dechiffriert oder verstanden, sie wollen viel eher konsumiert, ja verschluckt werden. W as soll man noch aus der, zugegeben, komplizierten Ikonographie eines Coca-Cola-Spots herauslesen, was an der perversen Bedeutung einer Benetton-Kampagne herum ­ grübeln, wo es doch von Anfang an feststeht, was die Botschaft ist: Drink Coke, Buy Benetton!3

W as tun w ir hier alle an der Universität, sind wir nicht schon längst über­

holt von der Zeit? Sind w ir denn nicht nur Apologeten einer antiquierten Er- kennntnisform? M it dieser Frage wird man aber auch in den sicheren Kreisen des W issenschafts- und Universitätsbetriebes konfrontiert. Die Epidemie der Dekon- struktion rehabilitiert zw ar den Text gegenüber dem Logos, es gehört zwar das Lesen auch zu ihrer Arbeitsweise, die Vorstellung des richtigen Lesens und des Sinn-Findens wird aber von ihr weitestgehend desavouiert. W ozu also noch über das richtige Lesen nachdenken, wenn der Sinn entweder vorgekaut und

vorver-1 Der Text ist die mit Fufinoten versehene Fassung des Festvortrags.

2 Diesen Text schreibe ich an einem Computer, die Metaphern verschmelzen in eine Reihe von , 12111211111112212121. ---- ? Ö ( 00OiQQ>.- .----'ZCÜX'Hs, [

3 In letzterer Werbung wird für Jeans und Pullis mit Aids-Kranken, in tödlicher Angst flüchtenden schwarzen Menschen und mit dem zerfetzten T-Shirt eines Toten aus dem bosnischen Kriege geworben.

4 So wurde "die Lehre" Derridas von den Oxforder Dons bezeichnet, als sie sich weigerten, ihm das Ehrendoktorat zu verleihen.

daut serviert, oder aber in der unendlichen Kette der früheren, noch früheren und noch-noch früheren Texte zerstreut, disseminiert wird?

Die Antwort wäre auf verschiedenen Reflexionsebenen zu geben, als unver­

dorbener Epikuräer möchte ich meinen Vorschlag frei nach Roland Barthes for­

mulieren: man liest trotz allem, weil das Lesen und das Sinnfinden Spaß macht.

Und man lehrt, wie zu lesen sei und verführt dadurch zur Lust. Zur Lust am Text.

Dieser Begierde nach Sinn und dieser Faszination des Lesens möchte ich heute in m einem Referat nachgehen.

Ich habe Stifters Erstlingserzählung, Der Kondor, gewählt, weil ihre Lek­

türe die einzelnen Etappen des sinnsuchenden, sinnstiftenden Lesens sehr gut aufweist. Für Zwecke der Veranschaulichung werde ich den Prozeß des V erste­

türe die einzelnen Etappen des sinnsuchenden, sinnstiftenden Lesens sehr gut aufweist. Für Zwecke der Veranschaulichung werde ich den Prozeß des V erste­