• Nem Talált Eredményt

Die Demokratie und die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts68

I.

Nach dem Zusammenbruch der Gesellschaftsordnungen des sowjetischen Typs in den Jahren 1989 und 1991 hat der amerikanische Politologe Francis Fukuyama angesichts des Versagens der kommunistischen Legitimationsmuster in seinem Buch "Das Ende der Geschichte"69 die These vertreten, daß die liberale Demokratie, die seit den bürgerlichen Revolutionen des 17., 18. und 19.

Jahrhunderts zahlreiche Metamorphosen durchlief, nun endlich zu der politischen Form der Integration der gesellschaftlichen Verhältnisse in kapitalistischen Staaten gefunden habe, zu der es keine historischen Alternativen mehr gebe. Der dieser Feststellung zugrundeliegende Triumphalismus schlug sich in den bekannten Formeln vom "Ende der Geschichte" oder vom "Ende der Utopie"70 nieder.

Tatsächlich scheint es so zu sein, daß die liberale Demokratie (parlamentarische und präsidentielle Demokratie) auf der weltpolitischen Agenda keine andere Demokratievariante als Konkurrenz zu fürchten hat, ganz zu schweigen von möglichen diktatorischen Alternativen, seien sie nun kommissarischer, autoritärer oder totalitärer Provenienz. Doch demgegenüber bleibt zu fragen, ob tatsächlich der Niedergang des Realsozialismus in Europa automatisch zu einem Legitimationsgewinn des westlichen Verfassungstyps führte, der ihn gleichsam gegenüber allen Gefährdungen immunisiert.

Wer sich einen Überblick über die Zeitdiagnosen der westlichen Demokratie nach der großen Zäsur von 1989 und 1991 verschafft, könnte zu dem Schluß kommen, das Gegenteil sei der Fall. Mit dem Verschwinden des Feindbildes

"Kommunismus", so scheint es, treten die Schwächen des Verfassungstyps

"westliche Demokratie" um so schärfer hervor. Gewiß ist die Rede von der Krise der Demokratie so alt wie diese selbst, weil die Ausweitung politischer Teilhabe das Resultat erbitterter politischer Kämpfe schon lange vor der Französischen Revolution war. Auch sind die Gefahren, die der Demokratie von den Bürokratisierungstendenzen etatistischer Verwaltungen und den Oligarchisierungstrends in den großen massendemokratischen Organisationen der

68 Die folgenden Ausführungen lehnen sich eng an die einschlägigen Abschnitte meines Buches

„Demokratietheorien. Historischer Prozess - Theoretische Entwicklung – Soziotechnische Bedingungen”, Wiesbaden 2005“ an.

69Vgl. Fukuyama 1992.

70Vgl. Fest 1991, dazu kritisch Saage 1992.

174

modernen Industriestaaten drohen, seit dem 19. und verstärkt im 20. Jahrhundert immer wieder analysiert worden.71 Aber die Herausforderungen der liberalen Demokratie seit dem Zusammenbruch der Herrschaftsordnungen sowjetischen Typs' sind offensichtlich neuartig. Genannt werden vor allem die folgenden Problemlagen, mit denen der westliche Verfassungstyp konfrontiert ist, ohne bisher überzeugende Lösungen anbieten zu können :

1. Seit der frühen Neuzeit hätten sich in den westlichen Ländern Marktgesellschaften in einem langwierigen und komplexen Prozess durchgesetzt.

Aber der individualistische Nutzenkalkül und das egoistische Konkurrenzverhalten als notwendige Voraussetzung und Folge der Marktökonomie seien, wie Tocqueville in seiner Analyse der amerikanischen Demokratie in der Mitte des 19.

Jahrhunderts bemerkte, durch "Gewohnheiten des Herzens" korrigiert worden. Er habe damit einen Tatbestand gemeint, der eigentlich bis zur Mitte des 20.

Jahrhunderts in den westlichen Demokratien außer Frage stand: daß nämlich das Prinzip egoistischen Utilitätsdenkens auf die Sphäre der Ökonomie im engeren Sinne weitgehend beschränkt blieb und die anderen Lebensbereiche der ständisch-handwerklichen, sowie bäuerlichen Traditionen, des Familienlebens und der generellen sozialen Orientierung der einzelnen unberührt ließ. Der Triumph der Marktwirtschaft im weltweiten Kontext nach dem Zusammenbruch der Planwirtschaften des Ostens könnte nach dieser Diagnose für die innere Verfassung der westlichen Staaten einen hohen Preis haben72: Marktkonformes Verhalten, durch solidarische Werte nicht mehr korrigiert, treibe eine gesellschaftliche Praxis aus sich hervor, die der ehemalige Bundesverfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde auf die Formel brachte: Es komme darauf an, "möglichst viel (für sich) herauszuholen, sich teuer zu verkaufen".73 Doch setze sich diese Maxime durch, so sei der liberalen Demokratie ihre wichtigste normative Ressource entzogen: die Bereitschaft der Bürger, sich für sie zu engagieren.

2. Mit dem drohenden Zerfall der normativen Ressourcen des Bürgersinns gehe in den westlichen Staaten ein Modernisierungsschub einher, der aussschließlich seiner eigenen Logik folge, ohne auf die Logiken der anderen Teilbereiche der Gesellschaft Rücksicht zu nehmen. Eine konjunkturunabhänge, auf Dauer gestellte Massenarbeitslosigkeit, aber auch der Verlust humaner sinnstiftender Leitbilder sei die notwendige Folge: sie produziere dadurch massenhaft anomische Bewußtseinslagen, die sich in Gewalt- und Ideologiebereitschaft sowie in der Sehnsucht nach einfachen Lösungen und "starken" Männern äußere.74 Die immer

71Vgl. hierzu Lenk 1991, S. 957-965. Zum Verhältnis von Demokratie und Bürokratisierung vgl.

auch Fetscher 1973, S. 50-62.

72Vgl. Dubiel 1995, S. 727-733.

73Böckenförde 1995, S. 723.

74Vgl. Fijalkowski 1994, S. 285.

175

wiederkehrenden Wellen des Fremdenhasses und rechtsextremistischer Gewalttaten seien zwar nicht mit den Entstehungsbedingungen des Faschismus in der Weimarer Republik zu vergleichen. Doch stellten sie dann eine ernsthafte Herausforderung für die liberale Demokratie dar75, wenn sie begleitet würden von massiven sozio-kulturellen Fragmentierungen, in deren Gefolge sich innerhalb fundamentalistischer Gruppierungen totalitäre Ideologien durchsetzen können. Der ehemalige Ost-West-Gegensatz sei längst durch einen "Zusammenprall der Zivilisationen" (Huntington) ersetzt worden, der nicht nur an den Grenzen des Geltungsbereichs der westlichen Demokratien, sondern in ihren Metropolen selbst stattfinde.76

3. Technologische Entscheidungen mit irreversiblen Konsequenzen drohten das Mehrheitsprinzip außer Kraft zu setzen. Die westliche Demokratie sei aber nur dann wirklich funktionsfähig, wenn die Minderheit zur Mehrheit werden kann und einmal getroffene Entscheidungen wieder zu revidieren sind.77 Noch schwerer aber wiege, daß die liberale Demokratie in ihrer jetzigen Form mit dem Nachweis schuldig bleibe, daß sie die Lebensbedingungen der Menschheit im 21. Jahrhundert zu sichern vermag. Dem Druck der nächsten Wahlen ausgesetzt, konzentrierten sich jedoch die Politiker auf unmittelbar anstehende Problemlagen; die längst fälligen ökologischen Strukturentscheidungen blieben aus, weil sie langfristigen Menschheitsinteressen dienten, die im System der Konkurrenzdemokratie nicht mehrheitsfähig und damit auch nicht durchsetzbar seien. Nicht im Parlament, sondern im Radio und im Fernsehen fänden im allgemeinen die sachkundigen Diskussionen über die wichtigsten ökologischen, sozialen, politischen und wirtschaftlichen Probleme statt. Das Interesse der Parteien an ihrem Machterhalt entwickle zudem eine solche Eigendynamik, daß der Abstand zwischen der öffentlichen Meinung und den gewählten Volksvertretern ständig wachse. Wir müßten uns bewußt sein, so die Diagnose des Berichts an den Club of Rome von 1992, "Die globale Revolution", "daß die Demokratie heute ausgehöhlt und gefährdet ist und daß sie Grenzen" habe. Die Antwort auf die Frage, ob die Welt, in der wir uns vorfinden, überhaupt regierbar sei, laute: "Wahrscheinlich nicht mit den derzeitig vorhandenen Strukturen und Einstellungen."78

4. In dem Maße, wie sich die Individualisierungstendenzen in den westlichen Ländern verstärkten, werde immer unklarer, worin der unverzichtbare gesellschaftliche Basiskonsens als Voraussetzung eines pluralistisch verfaßten Regierungssystems zu sehen sei: alle normativen Ressourcen traditionaler Art, aus denen sich jenseits marktkonformen Verhaltens so etwas wie eine kollektive

75Vgl. Gess 1994, S. 340.

76Vgl. Tibi 1994, S. 306ff.

77Vgl. Bermbach 1994, S. 302.

78King/Schneider 1991, S. 69.

176

Identität ergeben könnte, scheinen erschöpft zu sein.79 Aus dieser Entwicklung resultierten zwei Konsequenzen, die sich für die liberale Demokratie gleichermaßen fatal auswirkten. Einerseits, komme es bei vielen Bürgern zur Herausbildung einer Doppelmoral: im Namen individueller Grundrechte würden staatliche Maßnahmen zur Schaffung von Infrastrukturen, die solidarischen Zwecken dienten, blockiert, um den politischen Akteuren gleichzeitig Versagen angesichts dringend zu lösender Strukturprobleme vorzuwerfen.80 Andererseits, habe die zunehmende Individualisierung des Lebens schon längst die Frage nach der Integrationsfähigkeit der westlichen Demokratien aufgrund des Wegfalls des kommunistischen Feindbildes auf die politische Tagesordnung gesetzt: es sei keineswegs ausgemacht, so lauten düstere Prognosen, ob nicht die Bürgerkriegsszenarien im ehemaligen Herrschaftsbereich des Realsozialismus die Zukunft der westlichen Demokratie vorwegnehmen.81

5. Als zwischen 1989 und 1991 die realsozialistischen Staaten in Europa zusammenbrachen, beherrschte eine optimistische, wenn nicht sogar euphorische Europa-Vision die öffentliche Auseinandersetzung. Man sprach vom "Modell Europa", in dem es vielfältige und richtungsweisende Sozialexperimente geben werde, denen nicht länger mehr dogmatisierte Utopien und Ideologien, sondern empiriegesättigte und erprobungsfähige Handlungsentwürfe zugrunde liegen.

Europa, so schien es, avancierte zum Hoffnungsträger überhaupt, der auf der Basis einer florierenden Marktwirtschaft wachsenden Wohlstand mit Demokratie, Rechtsstaat, sozialer Sicherheit, sowie einer zivilen politischen Kultur verbinde und so zu einer Erneuerung, bzw. Revitalisierung des westlichen Verfassungstyps führe.82 Heute, so scheint es, ist nicht mehr viel von dieser Aufbruchstimmung übrig geblieben. Vor allem werden Zweifel an der ökonomischen Leistungsfähigkeit Europas laut. Diese Prognose geht von der Annahme aus, daß die Wachstumsraten der vergangenen Jahre nicht mehr erreichbar sind, die die Voraussetzung für das Funktionieren unserer Sozialsysteme waren und die zugleich die Löhne in Europa unbezahlbar gemacht hätten. Einerseits, seien die Löhne brutto zu hoch; sie raubten den Produzenten die internationale Wettbewerbsfähigkeit. Andererseits, seien sie jedoch netto zu niedrig, weil sich ein allein verdienender Angestellter mit zwei Kindern zunehmend der Armutsgrenze nähere.83 Aus diesem Szenario, werden einige beunruhigende Fragen abgeleitet:

stehen wir vor dem Ende unserer bisherigen Lebensweise? Wenn Europa tatsächlich verarmt, verliert dann der Verfassungstyp "westliche Demokratie" nicht eine entscheidende Sinnquelle? Kann es sein, daß der Zusammenbruch des Ostens

79Vgl. Bermbach 1994, S. 233.

80Vgl. Fijalkowski 1994, S. 286f.

81Vgl. Eisfeld 1994, S. 352.

82Vgl. Senghaas 1990, S. 148f.

83Vgl. Afheldt 1995.

177

nicht den Sieg des Westens bedeutet, sondern umgekehrt: das Vorbeben zu einem noch viel größeren Zusammenbruch? Befinden wir uns heute in Europa in einer Situation wie die DDR des Jahres 1985, ohne zu ahnen, wie wenig Zeit uns noch bleibt?

6. Zwar bietet der Trend der Globalisierung der Märkte84, der sich mit dem Zusammenbruch der realsozialistischen Diktaturen in Europa und dem Siegeszug der neuen Informationstechnologien ungehemmt durchgesetzt hat, die Perspektive einer "Übereinstimmung des Rechts mit einer Gemeinschaft des Nutzens im globalen Maßstab".85 Doch dieser Chance stehen auch Gefahren für die liberale Demokratie gegenüber. Indem sich das Kapital internationalisiert und mittels der Neuen Medien weltweit vernetzt, könnte es sich zunehmend seiner sozialstaatlichen Korrektive entziehen, die durch die allgemeine Kapitalflucht und die Verlagerung ganzer Industrien in sogenannte Billiglohnländer noch weiter geschwächt werden. Da die Globalisierung die Gegenmacht der Gewerkschaften aushebelt und die Verringerung der Arbeitskosten einer der wichtigsten Aspekte der Konkurrenzfähigkeit innerhalb der globalisierten Weltwirtschaft ist, wäre nicht auszuschließen, daß dem wachsenden Heer der Arbeitslosen eine kleine Schicht von Superreichen gegenübersteht. Auf diese Weise könnte die Globalisierung jenes Mindestmaß an sozialer Gerechtigkeit zerstören, ohne das die liberale Demokratie ihre Integrationsfähigkeit verlöre. Der Rest-Staat müßte zunehmend zu autoritären, d.h. antidemokratischen Mitteln greifen, um die Stabilität der Gesellschaft zu sichern. Andererseits, könnten sich die wirklich relevanten gesamtgesellschaftlichen Entscheidungen in den Chefetagen der weltweit agierenden "global players" abspielen, die der demokratischen Kontrolle der Bürger weitgehend entzogen sind.

7. Spätestens seit dem 11. September 2001, ist die liberale Demokratie des Westens mit der Gefahr des weltweiten, gegen sie gerichteten Terrors konfrontiert, der bis dahin unterschätzt worden ist. Ausgehend vom islamischen Fundamentalismus, sind die bisherigen Reaktionsmuster wenig erfolgversprechend. Das kulturalistische Paradigma86 sieht das Problem nicht im islamischen Fundamentalismus, sondern im Islam insgesamt. Der westlichen Demokratie wird empfohlen, ihre Reihen zu schließen und sich auf ihre eigenen Werte zu besinnen.

Unter dieser Voraussetzung, könnten dann in der Außenpolitik realistische Bündnisse mit anderen Kulturen geschlossen werden, die auf gegenseitigem Nutzen beruhen. Was aber geschieht mit den kulturellen Minoritäten in den westlichen Metropolen? Und wie soll dieser Ansatz funktionieren, wenn der fundamentalistische Islam in seinen eigenen Ursprungsländern mehrheitsfähig

84Vgl. hierzu kritisch Ziegler 2003.

85Vgl. Merle/Gosepath 2002, S. 8.

86Vgl. Huntington 1996.

178

wird? Das modernisierungstheoretische Muster87 geht davon aus, daß der islamische Fundamentalismus eine Ideologie darstellt, die streng vom Islam als Religion zu trennen ist. Die westliche Demokratie habe den islamischen Fundamentalismus zu bekämpfen, aber den Dialog mit dem Islam zu suchen. Als Fernziel gilt die Entstehung einer Weltzivilisation, in der unter dem Zeichen der Demokratie die aufklärerischen Potentiale der islamischen und der westlichen Kultur verschmelzen. Auch diese Konzeption erscheint in einem problematischen Licht, wenn sich - gerade unter dem Eindruck westlicher Militärinterventionen - die Kooperationsbereitschaft der islamischen Staaten auf die ihrer korrumpierten Eliten beschränken sollte.

II.

Hat die liberale Demokratie angesichts dieser Herausforderungen eine Zukunft?

Wir sollten nicht vergessen, daß in der bisherigen Geschichte alle diktatorischen und technokratischen Versuche, gegen das anthropologische Veto der Selbstbestimmung stabile Herrschaftsordnungen zu formieren, wenig erfolgreich waren. Der neueste Beleg sind die Ereignisse von 1989 und ihre Folgen: wie schon vor ihnen die faschistischen Diktaturen, so scheiterten auch die politischen Systeme des sowjetischen Typs in letzter Instanz an dem "Protest gegen den fremden Willen, dem sich der eigene beugen muß, gegen die Qual der Heteronomie".88 Diese Aussage Hans Kelsens ist im der deutschen Verinigung der Jahre 1989/90 eindrucksvoll bestätigt worden. So heißt es in der gemeinsamen Erklärung der Bürgerbewegungen der DDR vom 4. Oktober 1989: "Uns verbindet der Wille, Staat und Gesellschaft demokratisch umzugestalten. Es kommt darauf an, einen Zustand zu beenden, in dem Bürgerinnen und Bürger dieser Gesellschaft nicht die Möglichkeit haben, ihre politischen Rechte so auszuüben, wie es die Menschenrechtskonventionen der Vereinten Nationen und die KSZE-Dokumente verlangen. Wir erklären uns solidarisch mit allen, die wegen ihres Einsatzes für diese Ziele verfolgt werden. Wir setzen uns ein für die Freilassung der Inhaftierten, die Aufhebung ergangener Urteile und die Einstellung laufender Ermittlungsverfahren. Wir halten es für vorrangig, in unserem Lande eine Diskussion darüber zu eröffnen, welche Mindestbedingungen für eine demokratische Wahl eingehalten werden müssen".89 Aber sicher ist auch, daß die Demokratie in ihrer heutigen Form nicht in traditionalistischer Statik verharren darf. Sie muß sich den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts stellen. Doch die

87Vgl. Tibi 1995.

88Kelsen 1981, S. 3.

89Gemeinsame Erklärung der Bürgerbewegung vom 4. Oktober 1989, in: Volker Gransow/Konrad H. Jarausch (Hrsg.): Die deutsche Vereinigung. Dokumente zu Bürgerbewegung, Annäherung und Beitritt, Köln 1991, S. 69. Zu den aus den Bürgerbewegungen der DDR in der Umbruchphase entstandenen "Runden Tische" vgl. auch Berg 2000 sowie Thaysen 2000.

179

Frage ist, wie das geschehen soll. Niemand kann an dieser Stelle detaillierte Reformvorschläge der Institutionen unseres politischen Systems erwarten; dazu mögen sich Experten äußern, die auf diesem Gebiet kompetenter sind als der Verfasser. Doch möchte er wenigstens zwei Bedingungen nennen, die für die Zukunft der westlichen Demokratie entscheidend sein können.

Zunächst wird ihre zukünftige Entwicklung davon abhängen, ob es gelingt, dem Denken in Kategorien der individuellen Nutzenmaximierung neue Formen der Bürgersolidarität gegenüberzustellen. Offen kontraproduktiv wäre der Versuch, sie im Zeichen eines "Krieges gegen den weltweiten Terrorismus" durch innen - und außenpolitische Feindbestimmungen zu erzwingen: eine solche ausgrenzende Homogenisierung würde die Demokratie unter sich begraben. Bedenkliche Erosionserscheinungen des normativen Fundaments der liberalen Demokratien sind bereits heute allenthalben sichtbar, wenn in der Öffentlichkeit Versuche unternommen werden, die Folter als legitimes Mittel der Verbrechens- und Terrorismusbekämpfung zu akzeptieren und sich die einzige Supermacht der Welt mit dem Problem auseinanderzusetzen hat, für systematische Mißhandlungen von Kriegsgefangenen unterhalb des Niveaus der Genfer Konvention verantwortlich zu sein. Aber auch der neokonservative Ansatz, Solidarität durch den Rekurs auf traditionale Werte im Bereich der Familien-, Sozial- und Kulturpolitik notfalls administrativ zu verordnen, ist ein Irrweg. Längst sind "die traditionalen Polster, auf die sich - bis vor wenigen Jahrzehnten - der Respekt vor der Autorität des Staates, der Gehorsam gegenüber den Gesetzen und eine Ethik der Arbeit stützen konnten"90, in dem Maße verschlissen, wie in den westlichen Ländern die zweckrationale, am Markt orientierte Nutzenmaximierung nicht mehr an einer bestimmten Schicht festmachbar, sondern tendenziell zur Handlungsmaxime aller Individuen geworden ist. Die von der Moderne ausgelösten Individualisierungstendenzen sind nur von ihr selbst durch neue Formen der Solidarität in ihrer Dynamik zu bremsen und auf ihr humanes Maß zurückzuführen.

Sie kann dabei auf keine andere Quelle zurückgreifen als auf die aufgeklärten Eigeninteressen der Bürger selbst : erst in der zivilgesellschaftlichen Assoziation können die einzelnen wieder lernen, freiwillig solidarische Bindungen einzugehen.

Sodann scheint mir klar zu sein, daß die aufgezeigten Strukturprobleme nur zu bewältigen sind, wenn der westliche Verfassungstyp entschlossen an den - freilich zu reformierenden - Strukturen des Parteiensystems festhält: sie sind keine Fremdkörper, sondern müssen zu einem Zentrum der anzustrebenden Zivilgesellschaft erhoben werden. Für alle Versuche, das tatsächliche oder vermeintliche Versagen der politischen Parteien dadurch zu kompensieren, daß man die Richtlinienkompetenz bei der Antwort auf die Herausforderungen des 21.

Jahrhunderts neu zu schaffenden Institutionen zuordnet, die in einem, angeblich

90Dubiel 1995, S. 729.

180

vom pluralistischen Interessenkampf entlasteten Raum agieren, trifft noch immer zu, was Hans Kelsen über die Parteienfeindschaft in den konstitutionellen Monarchien in Deutschland und Österreich sagte : sie sei - bewußt oder unbewußt -

"ein ideologisch maskierter Stoß gegen die Realisierung der Demokratie".91 Tatsächlich benötigen wir nicht weniger, sondern mehr Pluralismus. "In der gegenwärtig entstehenden Welt", so heißt es im Bericht des Club of Rome von 1992, "kann die Entscheidungsgewalt nicht länger das Monopol von Regierungen und ihren Ministerien sein, die obendrein in einem Vakuum arbeiten". Viele Partner müßten in diesen Prozeß einbezogen werden: "Handel und Industrie, Forschungsinstitute, Wissenschaftler, nichtstaatliche Einrichtungen und private Organisationen".92

Allerdings wird der pluralistische Parteienstaat der Problemlage des 21.

Jahrhunderts nur unter der Voraussetzung gewachsen sein, daß er sich in zweierlei Hinsicht reformiert. Auf der einen Seite muß er durch ein fundamentaldemokratisches Korrektiv wirkungsvoll ergänzt werden. Von einer solchen Konstellation könnten das Parlament, die Parteien und die Abgeordneten nur gewinnen, weil sie in einer im Umbruch begriffenen Welt auf einen sensiblen Seismographen an der Basis angewiesen sind: nicht nur um eine Politik zu vermeiden, die sich von den Interessen, Hoffnungen und Ängsten der Bürger löst.

Ebenso wichtig ist, daß nur so deren Identifikation mit dem politischen System der parlamentarischen Demokratie möglich erscheint. Auf der anderen Seite wird der pluralistische Parteienstaat des 21. Jahrhunderts um die Erarbeitung der Vision einer zukünftigen Welt, die wir für anstrebenswert halten, nicht herumkommen.

Wer ein solches sinnlich konkretes fiktives Szenario, das über den bestehenden Status quo hinausweist, von vornherein als Totalitarismus abtut, hat nicht begriffen, daß die Institutionen des westlichen Verfassungstyps zu leeren Hülsen werden, wenn sie sich auf ihre Funktion der Elitenrekrutierung und der Erzeugung der staatlichen Ordnung beschränken. Das Politische verschwindet dann aus der Politik: sie droht zu einer öffentlichkeitswirksamen Inszenierung von Scheinlösungen zu verkommen, ohne auf die Strukturprobleme des 21.

Jahrhunderts wirkliche Antworten zu finden.

III.

Die westliche Demokratie, so kann abschließend festgestellt werden, hat den Herausforderungen linker und rechter Diktaturen im 20. Jahrhundert standgehalten.

Ob sie die Probleme des 21. Jahrhunderts lösen wird, für die sie selbst mitverantwortlich ist, muss die Zukunft zeigen.

91Kelsen 1981, S. 20.

92King/Schneider 1991, S. 105

181 Literatur

Afheldt 1994

Horst Afheldt : Wohlstand für niemand? Die Marktwirtschaft entlässt ihre Kinder, Frankfurt am Main 1995.

Berg 2000

Gunnar Berg (Hg.): Runder Tisch und direkte Demokratie. Eine Disputation, Opladen 2000.

Bermbach 1994

Udo Bermbach : Ambivalenzen liberaler Demokratien, in : Saage 2004, S. 289-304.

Böckenförde 1995

Ernst-Wolfgang Böckenförde : Erfolge und Grenzen der Aufklärung. Acht Thesen, in : Universitas, 50. Jg. (1995), S. 720-726.

Dubiel 1995

Helmut Dubiel : Die Krise der liberalen Gesellschaft, in : Universitas, 50 Jg.

(1995), S. 727-733.

Eisfeld 1994

Rainer Eisfeld : Ein „dritter Weg“ in Europa – Illusionen oder fortdauernde Perspektive ?, in : Saage 2004, S. 319-329.

Fest 1991

Joachim Fest : Der zerstörte Traum. Vom Ende des utopischen Zeitalters, Berlin 1991.

Fijalkowski 1994

Jürgen Fijalkowski : Die Zukunftsgewissheit westlicher Demokratien, in : Richard Saage (Hg.) : Das Scheintern diktatorischer Legitimationsmuster und die Zukunftsfähigkeit der Demokratie. Festschrift für Walter Euchner, Berlin 1994, S.

273-288, Gess 1994

Brigitte Gess : Zu Hannah Arendts Totalitarismustheorie nach dem

Brigitte Gess : Zu Hannah Arendts Totalitarismustheorie nach dem