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4. Regionale Kultur und Kulturtransfer in der Temesvarer Zeitung

4.3. Fremdbilder und Wahrnehmung des Fremden in der Temesvarer Zeitung

4.3.2. Die goldenen Kuppeln des „Reiches der Knute“

Die Russland- und Russenbilder der Deutschen änderten sich radikal im Laufe des 19.

Jahrhunderts; daher sind sie sehr unterschiedlich; meistens hängen sie von den aktuellen

588 Ebd. S. 2.

589 Helbich 1990, S. 68.

590 Schmidt 1997, S. 92.

historischen Ereignissen ab. Nach 1815, als der Wiener Kongress Europa und Deutschland neu einteilte, fühlten sich viele Deutsche enttäuscht; ihre Sichtweise richtete sich gegen das russische Zarenreich. Nach den vorherigen meist positiven Fremdbildern591 sahen sie es als die militärisch und politisch stärkste und einflussreichste Macht in Europa an; dies verursachte ein zunehmendes Misstrauen, eine Antipathie gegen Russland und die Russen; es wurden ältere Feindbilder wiederbelebt und neue entdeckt. Neben diesem feindlichen politischen Standpunkt gab es im geistigen Leben eine positive Entwicklung der Russenbilder.

Dank der regelmäßigen Veröffentlichungen über die russische Literatur begannen die deutschen Leser sie zu schätzen und neue Autoren kennenzulernen. Man befasste sich in den zwanziger, dreißiger Jahren mehr mit russischen Themen, einige Beispiele dafür: Carl Friedrich von der Borg gab 1821 und 1823 die Sammelbände Poetische Erzeugnisse der Russen in Dorpat und Riga heraus; sie enthielten Gedichte von Puschkin, Shukowskij, Jasykow und vielen anderen und 1825 erschien erstmalig ein Artikel im Brockhaus-Conversations-Lexikon über russische Literatur. 1827 besprach Goethe die englische Anthologie von John Bowring Specimen of the Russian poets with preliminary remarks and biographical notices. Er hob besonders Shukowskij hervor, „den Vertreter der deutschen Romantik in Rußland“, wie er sich selbst nannte.592 Außer dem geistigen Leben verbesserte sich die deutsch-russische Beziehung nicht besonders; die russlandfeindlichen Stimmungen werden in den Zeitungen häufiger, bis dahin, dass man in den vierziger Jahren in Russland schon einen potentiellen Feind sah. Das Zarenreich erschien bei vielen Literaten und Journalisten als eine despotische, europafremde, europafeindliche asiatische Gewaltmacht.

Die große Zahl der Abhandlungen, der Bücher und die intensive Arbeit der zahlreichen Wissenschaftler an der Untersuchung der deutschen Russlandbilder bewiesen, dass die meistverbreiteten und dauerhaftesten Vorurteile und Stereotypen in deutschen Russland- und Russenbildern in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden. In den folgenden Jahren (in den vierziger, fünfziger Jahren) änderten sich „die Lobsprüche der konservativen Anhänger des Zarenreichs ebenso wenig wie die schreckenerregenden Anklagen der Liberalen und Demokraten.“593

591 Einige Beispiele vom Anfang des 19. Jahrhunderts bestätigen die freundliche, verständnisvolle Haltung der Deutschen gegenüber den Russen: Johann Gottfried Richter: Moskwa (1799), Russische Miszellen (1803), Briefe aus Rußland (1804); Friedrich Bouterwek: Die vier großen Nationen des neunzehnten Jahrhunderts (1805). In:

Kopelew, Lew: Einleitung und historische Einführung. Anbruch einer neuen Epoche (1789–1815) In: Keller, Mechtild (Hg.): Russen und Rußland aus deutscher Sicht 19. Jahrhundert: Von der Jahrhundertwende bis zur Reichsgründung (1800 –1871). München: Wilhelm Fink, 1992. (West-östliche Spiegelungen: Reihe A, Bd. 3.) S.

11–27.

592 Mechtild 1992, S. 31f.

593 Mechtild 1992, S. 66.

Die große Zäsur in der Geschichte von Russland und in der Entwicklung der europäischen Russlandbilder brachte das Jahr 1856, als der Pariser Frieden den Krimkrieg beendete. Vor ungefähr vierzig Jahren wurden die siegreichen russischen Heere als Befreier und Waffenbrüder in deutschen Ländern begrüßt; man glaubte, dass das russische Reich unüberwindbar sei und das stärkste in Europa. Der Krimkrieg aber beendete dieses Scheinbild;

er bewies, dass sich hinter dem Prunk der Petersburger Paraden eine schwerfällige, alles lähmende Administration befand, und in solcher Weise auch Russland verletzbar ist. Mit Russlands Niederlage wurde offensichtlich, wie rückständig das Land in der Technik war:

überalterte Waffen, fehlende Eisenbahnen. Russland hatte viel in der Industrialisierung aufzuholen; eine Epoche ging zu Ende, aber deren Konsequenzen blieben. Laut Winfried Baumgart war die Fundamental-Ursache für die russische Niederlage im Krimkrieg ein soziales Problem, das der Leibeigenschaft, „die in der Armee zur Beibehaltung einer langen Dienstzeit für eine eng begrenzte Zahl von Leibeigenen zwang und die Schaffung einer „Bürgerarmee“, die im Krieg auf eine Reserve ausgebildeter Wehrfähiger hätte zurückgreifen können, unmöglich machte.594

Als Folge der Niederlage von Russland zerfielen nach dem Krimkrieg die gewohnten Vorstellungen vom Land und deren Bewohnern, denkt man an seinen Status als Riesemacht, die einmal die Spitze der Heiligen Allianz war und immer noch zu den Grundstützen des europäischen, international-politischen Kräftesystems gehörte. Dieses Bild schien zerstört zu werden oder kam mindestens ins Schwanken: Russland erwies sich als viel schwächer, als selbst die misstrauischen Kritiker vermuteten.595

In den nächsten Jahren, und vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts änderte sich vieles nicht nur in Russland, sondern in der ganzen Welt: In den USA besiegte der bürgerliche industrielle Norden im Krieg 1861- 1865 die patriarchalischen Sklavenhalter des Südens; Italien wurde zu einem Nationalstaat; in Japan revoltierte 1868 der Kaiser gegen die ihn überwachende feudale Aristokratie. Russland begann nach dem schweren Schlag für sein Prestige als Groß- und Ordnungsmacht – unter der Regierung des Zaren Alexander II. – weitreichende Reformen in Verwaltung, Bildung und in der zaristischen Armee. Alexander II.

nutzte diese Periode dazu, dass er eine gründliche Basis für sein politisches Programm schuf.

Man sah ein, dass die einzige Lösung, das Land aus den sozialen, wirtschaftlichen und

594 Baumgart, Winfried: Der Krimkrieg in der angelsächsischen und russischen militärgeschichtlichen Literatur der sechziger Jahre. S. 181–194, hier S. 191. http://ubm.opus.hbz-nrw.de/volltexte/2011/2675/pdf/doc.pdf (Zugriff am 08.12.2016)

595 Mechtild 1992, S. 68.

politischen Problemen herauszuholen, in erster Linie die Abschaffung der Leibeigenschaft war.

Diesen wichtigen Schritt verlangten nicht nur die freien Intellektuellen, sondern auch kaisertreue Beamte und Würdenträger. Die Reformen des Zaren wurden in der wissenschaftlichen Literatur als „groß“596 bezeichnet, weil sie einen Meilenstein in der Geschichte Russlands bedeuteten. Unter den grundsätzlichen Reformen hob sich am stärksten 1861 die Aufhebung der Leibeigenschaft heraus, aber auch weitere Änderungen folgten im Rechts- und Bildungswesen, in kommunalen Verwaltungen. Die Zensur wurde toleranter behandelt und in einigen Zeitschriften kamen nicht nur liberale, sondern auch demokratische und sogar sozialistische revolutionäre Ideen zum Ausdruck.597

Nach dem raschen Niederschlag der polnischen Revolution 1863 vermehrten sich in Russland die nationalistischen Gefühle und sie führten zur Stärkung der panslawistischen Bestrebungen: Es wurden sämtliche polnischen Sonderrechte abgeschafft, und damit begann eine Politik der Russifizierung. Das hatte zur Folge, dass die polnischen Emigranten, ebenso wie nach der Revolution von 1830/31 in allen westlichen Ländern neue Angst vor den

„grausamen Russen“ verbreiteten.

In den sechziger Jahren litt Russland noch unter den kaum vernarbten Wunden des Krimkrieges, unter der russlandfeindlichen Politik Österreichs, und unter der Schadenfreude der liberalen westlichen Presse.598 Trotz dieser Feindlichkeiten war Russland noch stark genug, um als Gegner äußerst gefährlich und auch als Verbündeter durchaus wünschenswert zu erscheinen. Otto von Bismarck übte eine russlandfreundliche Politik aus; die Preußen unterstützten die zarischen Armeen auch während des polnischen Aufstandes; auch Russland zeigte im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 Sympathie für Deutschland. Im Gegensatz zu dieser freundschaftlichen Haltung entwickelte sich für Österreich eine immer weniger günstige Situation, man betrachtete es als einen Rivalen und potentiellen Gegner auf dem Balkan.

Deswegen erklärte Alexander II. 1879 im sgn. „Ohrfeigenbrief“ an seinen Onkel, an den Deutschen Kaiser Wilhelm I. seinen Willen, Berlin sollte seine Politik zugunsten Österreichs aufgeben und eine russlandfreundliche Politik ausüben. Bismarck lehnte diese Bitte ab, wobei eine Erkaltung der russisch-deutschen Beziehungen stattfand, welche durch einen heftigen Zeitungskrieg Bismarcks gegen Russland veranlasst wurde.

596 Zühlke, Raoul: Alexander II. Der „Zar-Befreier”. In: Die Großen der Welt. Bd. 4: Zeitalter der Aufklärung. Leipzig u. a. 2005, S. 581–589, hier S. 584.

597 Mechtild 1992, S. 69.

598 Ebd. S. 70.

1881 begann eine neue Epoche im Konflikt zwischen Russland und Österreich-Ungarn:

Russland schloss mit den Kaisern Wilhelm I. und Franz Josef I. von Österreich das Dreikaiserbündnis. Die langjährigen Spannungen zwischen diesen Großmächten schienen gelöst zu werden, Russland bekam freie Hand im Osten und 1877 erklärte es dem Osmanischen Reich den Krieg.

Russland und die Vorstellungen über das Land, sowohl als reales, politisch und militärisch riesiges Land als auch als stereotypes Bild, bildeten immer ein aktuelles Thema. Diese Bilder existierten in den Köpfen der Menschen im Westen, und fanden einen Niederschlag in der Literatur, in den Reiseberichten, in den Beschreibungen über Land und Leute. Wenn man diesen Bildern, die sich die Menschen in ihrer Vorstellung von sich selbst und von fremden Völkern machten, besondere Aufmerksamkeit zollt, behauptet Franz K. Stanzel, versteht sich die Untersuchung als Beitrag zur literarischen Imagologie.599 Die literarische Imagologie arbeitet auch mit den Begriffen der Vorurteilsforschung wie Stereotyp und seine Ableitungen, Autostereotyp und Heterostereotyp, Eigen- oder Selbstbild und Fremd- oder Fremdenbild. Der Unterschied zwischen dem Stereotyp und dem Vorurteil besteht darin, dass sich das Vorurteil die im Stereotyp enthaltene verallgemeinernde Wertung subjektiv aneignet. Währenddessen bedeutet das Stereotyp ganz pragmatisch „eine starre, zur Verallgemeinerung tendierende, der Korrektur durch autoptische Befunde sich widersetzende Vorstellung von einer sozial oder ethnisch definierten Gruppe von Menschen verstanden.“600 Walter Lippmann nennt Stereotype

„Bilder in unseren Köpfen“. Stanzel hebt noch den Unterschied zwischen den Befunden der literarischen Imagologie und dem Nationalcharakter, die sehr selten, wenn überhaupt jemals zur Deckung kommen. Während die Imagologie auf vorgestellten Bildern, auf Ansichten, Urteilen, Einschätzungen basiert, die nur in der Vorstellung der Menschen existieren, sind diese als Fiktion zu betrachten. Der Begriff Nationalcharakter der soziologischen und sozialpsychologischen Forschung basiert dagegen „auf statistisch in der Realität der ethnischen oder nationalen Gruppen nachweisbaren Fakten der Differenz.“601

Das Stereotypen-Repertoire des Westens beinhaltet seit langer Zeit zwei gegensätzliche Bilder Russlands bzw. Osteuropas: auf der einen Seite ein Traumland, auf der anderen Seite mit einem klaren Feindbild ein Angsttraumland.602 Man stößt dabei sofort auf eine

599 Stanzel, Franz K.: Zur literarischen Imagologie. Eine Einführung. In: Stanzel, Franz K.: Europäischer Völkerspiegel. Imagologisch-ethnographische Studien zu den Völkertafeln des frühen 18. Jahrhunderts. Unter Mitwirkung von Ingomar Weiler und Waldemar Zacharasiewicz. Heidelberg 1999. S. 10.

600 Ebd.

601 Ebd. S. 11.

602 Roth, Klaus: Bilder des Ostens – Bilder des Westens. Zur gegenseitigen Wahrnehmung von Russen und Deutschen. In: Stadler, Harald u. Steininger, Rolf u. Berger, Karl C. (Hg.): Die Kosaken im Ersten und Zweiten

Schiene, innerhalb derer sich die Urteile bewegen. Die negativen Töne überwiegen vor allem in den deutschen Vorstellungen von Russland oder von Osteuropa, im russischen Bild von Deutschland bzw. vom Westen dominieren dagegen eher die positiven Grundtöne. Diese Tendenz kann man auch auf der Völkertafel beobachten; der „Muskawith“ steht in einer sich verschlechternden Reihe von links nach rechts oder West nach Ost.603 Man kann die Verschlechterungen, auf die die nordöstliche und die südöstliche Perspektive ausgerichtet sind, vielleicht einmal der Klimatheorie und das andere Mal einem abendländischen christlichen Bewusstsein zuschreiben, behauptet Eismann. Das Stereotyp von den barbarischen Russen in Westeuropa hat über Herberstein604 hinaus eine lange Tradition. Das Attribut „wild“ bezeichnet die Russen in älteren deutschen Quellen. Die Interpretation dieses Stereotyps ermöglicht mehrere Deutungsvarianten der Eigenschaft „wild“. Die Zeugnisse erlauben keine eindeutige Deutung, ob mit „wild“ die Fremdheit bezeichnet wird oder nicht, doch auch negative Eigenschaften, die dem Fremden, dem Barbaren oft zugesprochen werden. Die folgenden Jahrhunderte aber bestätigen und verfestigen in ganz Westeuropa das negative Stereotyp der Russen: Der wilde Russe wird nicht nur als fremd, sondern auch als ungebärdig, barbarisch und unzuverlässig wahrgenommen.

Seit dem späten 18. Jahrhundert wird dieses Ost-West-Verhältnis von einer axiomatischen Vorstellung eines „West-Ost-Gefälles“605 beherrscht, darunter verstand man eine Vorstellung, die „zivilisierte“ von „unzivilisierten“ Ländern trennte und die „unzivilisierten“ Länder des östlichen und südöstlichen Europa dem Prozess der modernisierenden „Europäisierung“

unterwerfen wollte.606 Diese Weltsicht wurde im 19. Jahrhundert im Westen Europas zu einer unhinterfragten mentalen Realität. Das deutsche Russlandbild aber ist im 19. Jahrhundert von starken Gegensätzen gekennzeichnet, von Bewunderung und Verachtung, von emotionaler Hinwendung und Furcht. Die Dichotomien zwischen „Vernunft“ und „Emotionalität“ definiert den Westen und Osten, bzw. Deutschland und Russland. Die russische Emotionalität wird der eigenen Rationalität gegenübergestellt, doch hatte die russische Emotionalität zwei

Weltkrieg. Innsbruck: Studienverlag, 2008. S. 181–191, hier: S. 181. Klaus Roth bezieht sich bei diesen Benennungen auf zwei Bücher, die in ihren Titel diese Beschreibungen tragen: Thum, Gregor (Hg.): Traumland Osten. Deutsche Bilder vom östlichen Europa im 20. Jahrhundert. Göttingen, 2006; Wippermann, Wolfgang: Die Deutschen und der Osten. Feindbild und Traumland. Darmstadt, 2007.

603 Eismann, Wolfgang: Der barbarische wilde Moskowit. Kontinuität und Wandel eines Stereotyps. In: Stanzel 1999, S. 283–299, hier S. 287.

604 Sigmund Freiherr von Herberstein (1486–1566) war ein österreichischer kaiserlicher Rat und Gesandter am russischen Hof. Seine Reisebeschreibungen in seiner berühmten Moscovia machen ihn zum Begründer der Russlandkunde.

605 Orlowski, Hubert: Die Ideologie des West-Ost-Gefälles und das Fremdheitssyndrom. In: A. Wierlacher (Hg.), Kulturthema Fremdheit. München: Iudicium, 1993. S. 463–470.

606 Roth 2008, S. 184.

antithetische Deutungen im Westen: eine positive und eine dunkle, furchterregende Seite. Auf der positiven Seite stand die „weite russische Seele“, die Herzlichkeit, die mitfühlende Menschlichkeit, wie sie in der russischen Literatur oder in russischen Volksliedern vorkommen.

Wegen diesen Eigenschaften, wegen seiner exotischen Andersartigkeit wurde Russland zum Gegenstand deutscher Bewunderung und irrationaler Sehnsüchte.607 Über die dunkle Seite der

„russischen Seele“ erfuhr man auch auf den österreichischen Völkertafeln des frühen 18.

Jahrhunderts, dass der „Muskawith“ sehr negativ beschrieben wurde: „boshaft“, „grausam“,

„unendlich grob“ und „verräterisch“. Russland als Gegenbild des strahlenden Westens erschien als Ort von Grausamkeit und Despotie, von Unberechenbarkeit und Mangel an Zivilität, von Rückständigkeit und Hingabe an den Alkohol. Das bedeutet aber nicht, behauptet Roth, dass die Russlandbilder überall so negativ waren; die Quellen der oben erwähnten Beispiele608 stammen aus dem französischen und englischen Sprachraum.

Preußens Haltung zum östlichen Europa und zu Russland war nicht so negativ, wozu die erfreulichen Beschreibungen Herders über die Slawen beitrugen.

Die Temesvarer Zeitung schildert in der untersuchten Periode viele Beschreibungen, Novellen, Reiseskizzen, aktuelle Nachrichten über Russland. Sie beinhalten wichtige Informationen über das russische Volk, ihre Gewohnheiten und über ihre bedeutenden geschichtlichen Ereignisse.

In den Skizzen aus Russland609 wird die Reise von Eidkuhnen nach Wirballen vorgestellt.

Je weiter der Zug auf preußischem Gebiete sich der russischen Grenze nähert, desto spärlicher werden, von Wehlau an, die deutschen Passagiere. Die Stereotypien über Norden und Süden erscheinen ganz am Anfang des Artikels: „Nach Westen und Süden ist es der wohlthuende Blick in eine freundliche Welt, in eine sonnigere Zukunft, die unser Herz erwärmt. In Wirballen weht es uns fremd und kalt an.“ Russland erscheint hier als ein exotisches Land, mit besonderen Merkmalen, die anderswo nicht zu finden sind:

außer der Sprache und Tracht der Menschen und der veränderten Münzsorte erinnert, je weiter man nach Rußland hineinkommt, noch tausenderlei daran, daß wir uns in einem fremden Lande befinden. Zuerst tritt die eigenthümliche Gestalt und Farbe der Kirchen und der Dächer dem Ankömmling auffallend entgegen.

607 Ebd.

608 Larry Wolff und Maria Todorova beziehen sich hauptsächlich auf Quellen, die aus dem französischen und englischen Sprachraum stammen: Wolff, Larry: Inventing Eastern Europe. The Map of Civilization on the Mind of Enlightenment. Stanford, Cal.: Stanford UP, 1994 und Todorova, Maria: Imagining the Balkans. New York, 1997.

609 Skizzen aus Russland. In: Temesvarer Zeitung Nr. 271 vom 25. November 1871. S. 1.

Russland scheint fremd und orientalisch zu sein; die beliebte Farbe der Gebäude ist hellblau, hellgrün oder golden, blau mit silbernen Sternen. Die Kirchen sind wie kleine Zitadellen. Das Teetrinken und die Pirocken fangen schon in Litauen an; sie sind die Nationalgerichte der Russen. Die Teelokale der niederen Volksklassen sind in Russland wie die Kaffeehäuser in Italien. Daneben weist man auf die negativen Folgen des Krimkriegs hin, auf die Armut, die im Land herrscht:

Ja in ganz Rußland sehen Sie heutzutage keine Silberrubel, wie Sie vor fünfzehn Jahren hinwieder selten Rubelscheine sahen. Damals mußte man sehr bitten, wenn man statt Silbergeldes Papiergeld haben wollte.

Der Krimkrieg aber hat alles Silber verschlungen, und heute finden wir Silberrubel nur in Münzsammlungen.

oder

Der Bauer (Mushik) und Taglöhner wohnen in kleinen Hütten mit Strohdächern. Dem sorgsamen Beobachter fällt auf, daß alle diese Hütten keine Schornsteine haben. Wir in Deutschland und in anderen Ländern entledigen uns des Rauches aus unseren Oefen und von den Feuerherden durch Schornsteine. Der russische Bauer kennt dergleichen nicht; er zieht es vor, auch mitten im eisigen Winter, den dicken Qualm seines Herdes durch die weit geöffnete Thüre abziehen zu lassen. Mittlerweile setzt die Frau die nackten Kinder an die Erde, damit sie nicht ersticken. […] Es bleibt natürlich genügend viel Qualm zurück, um ein lustiges Bad für die Augen zu werden. Erblindungen gehören daher zur Hausordnung. Aber die Leute befinden sich dabei behaglich.

Mit einer langen Beschreibung über den Kreml setzt die Moskauer Geschichte Eine Morgenpromenade in Moskau610 ein, deren Autorin Apolina Schwefelberg eine Temeswarer Opernsängerin ist. Durch die subjektive Erfahrung des geographischen Raumes hat dieser Artikel sowohl belehrende als auch unterhaltende Funktion. An einem kalten Februarmorgen fährt man vor die Stadt Moskau. Das Stadtbild: polnische Juden mit Löckchen an den Schläfen und schmutzigen Talaren, russische Frauen mit dem Sarafan bekleidet wirbeln vorbei:

Die goldenen Kuppeln zahlloser buntfarbiger Klöster und Kirchen in dem hellen Lichte des klaren Morgens strahlen. Moskau ist das Herz Russlands und das Kreml das Herz Moskaus. Moskau ist ein Original, Moskau erinnert an die Märchen der Scheherezade in Tausend und eine Nacht, durch seine Lage auf sieben Hügeln, durch sein nächtliches Treiben, seine aus allen Polen der Welt zusammengewürfelten Bewohner, seine Paläste und armseligen Hütten. Mit unglaublicher Armut geht fabelhafter Glanz, höchste Bildung mit tierischer Rohheit, freigeistiger Aufschwung mit mittelalterlichem Aberglauben brüderlich Hand in Hand, ja man möchte sagen, Moskau sei viel russischer als Petersburg, es ist eben einzig in seiner Art und dadurch so unerschöpflich interessant. An dem Kreml knüpfen sich die mächtigsten Erinnerungen aus Russlands Geschichte.

Sehr ähnlich beschreibt Kurd von Schlözer, der preußische Diplomat die russische Hauptstadt in den Jahren 1857–1862 in seinen „Petersburger Briefen“611. Der Enkel des berühmten

610 Morgenpromenade in Moskau von Apolina Schwefelberg. In: Temesvarer Zeitung Nr. 169 vom 26. Juli 1871.

S. 1.

611 Schlözer, Kurd von: Petersburger Briefe 1857–1862. Hg. von Leopold von Schlözer. Stuttgart und Berlin, 1921.

Russlandhistorikers Ludwig von Schlözer gehörte zu den engsten Mitarbeitern Bismarcks. Er galt als ein treuer Russlandfreund und seine Aufgabe war die russische Wirklichkeit objektiv zu beschreiben. In seinen ersten Briefen schrieb er begeistert über Moskau:

Die Tage in Moskau waren hinreißend. Welch wundersames, fremdartiges Bild, diese tausendtürmige Stadt mit ihren grünen Dächern, goldenen Kuppeln und den weißen, zackigen Mauern, hoch oben das leuchtende Kreuz des Iwan Weliki [der Glockenturm im Kreml]! Ein buntes, asiatisches Zeltlager, ein Zusammenströmen der Völker Asiens und Europas, eine Schatzkammer aus Tausenduneiner Nacht – das „Rom der Tataren“.

Und wenn auch Peter der Große diese Residenz verlassen hat – Moskau bleibt doch der Mittelpunkt Rußlands:

Moskwa matuschka. (23./11. Mai 1857)

Schlözer vergaß auch nicht die negativen Seiten Russlands zu erwähnen: die gespannte Atmosphäre im Land, die wirtschaftlichen Krisen und sozialen Unruhen nach dem verlorenen Krieg. Er beurteilte die Situation in Russland streng und nannte als Grundproblem der russischen Wirklichkeit, das Problem der Leibeigenschaft.

In einem anderen Artikel der Temesvarer Zeitung wurde über die Geschichte der Kosaken612 berichtet, wo neben den geschichtlichen Daten auch die alten Vorurteile

In einem anderen Artikel der Temesvarer Zeitung wurde über die Geschichte der Kosaken612 berichtet, wo neben den geschichtlichen Daten auch die alten Vorurteile