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Versuch einer Geschichtsmythologie

Die ,Neue Mythologie' als Ergründung des ,unendlichen Gedichts' der Frühromantik

3. Mythenschaffende Experimente von Novalis

3.2. Versuch einer Geschichtsmythologie

Das Romanfragment Heinrich von Ofterdingen wurde von Novalis als ein Roman über die Geschichte geplant, aber, wie Novalis in dem oben zitierten Fragment for-muliert, er ist „gleichsam die Mythologie der Geschichte" geworden,45 d. h. Sinndeu-tung und Sinngebung sind durch ihn im Bereich .Geschichte' zu verwirklichen. Im Zentrum steht das Problem ,Zeit', das im Kontext der Lebensgeschichte einer fiktiven Figur, Heinrich, der zugleich Repräsentant der Zeit und der Menschheit ist, diskutiert wird.

Der Roman ist als ein Stationenroman zu betrachten, da die Hauptfigur an gewissen Orten und zu gewissen Zeiten innehält, um die ihm durch verschiedene Medien ver-mittelten Kenntnisse über die Vergangenheit zu reflektieren und eine Zukunftsperspek-tive zu konturieren. Der Roman deutet einen möglichen Weg der Herausbildung einer neuen Mythologie der Menschheits- und Naturgeschichte an. Nicht die konkreten geschichtlichen Ereignisse der Epoche des Mittelalters sollen vor allem erkannt und gewertet werden, sondern unterschiedliche Wissensbereiche synthetisiert und auf einen Mittelpunkt bezogen werden.

Heinrichs Weg zum (Mythen-)Dichter wird durch fremde Erzählungen sowie durch Gespräche beschleunigt, die ihn reizen, das Gehörte zu reflektieren und dadurch zu tieferen Kenntnissen zu gelangen. Die Geschichten des Fremden über die blaue Blume bewegen Heinrich dazu, sie weiterzuführen, sie neu zu „denken und dichten".46 Als erstes ,Gedicht' kann sein Traum im ersten Kapitel verstanden werden. Sinndeutung und Sinngebung spielen von nun an eine zentrale Rolle in seiner Lebensgeschichte, jede Deutung dient dazu, einen tieferen Sinnzusammenhang aufzuklären und seinem Leben Richtung zu geben. „Das Leben soll kein uns gegebener, sondern ein von uns

43 KFSA, Bd. 2, S. 315.

44 Novalis: Werke, Bd. 2, S. 514.

« Novalis: Werke, Bd. 2, S. 830.

46 Novalis: Werke, Bd. 1, S. 240.

gemachter R o m a n seyn"47 - formuliert Novalis in den „Vorarbeiten", was aus unserer Sicht auch bedeuten kann, dass die neue Mythologie von Heinrich nicht unbedingt ein poetisches Werk, sondern sein Leben wird, das er (im zweiten Romanteil) seinem poetischen Bewusstsein entsprechend gestaltet.

Kenntnisse werden ihm nicht nur durch Erzählungen und Gespräche, sondern auch durch T r ä u m e , durch ein in f r e m d e r Sprache geschriebenes, illustriertes Buch, sowie durch Lieder vermittelt. Er sucht jedes Mal nach d e m verborgenen, durch Symbole vermittelten Sinn, er versucht die Vielschichtigkeit der ,Symbolsprachen' sowie den Z u s a m m e n h a n g von E i n z e l n e m und G a n z e m , Diesseitigem und Jenseitigem zu erschließen. Von A n f a n g an reflektiert Heinrich auf Verständigungsprobleme, die z u m Teil als Defizit seiner Zeit, z u m Teil als sein individuelles U n g e n ü g e n gewertet werden:

Ich hörte einst von alten Zeiten reden; wie da die Thiere und Bäume und Felsen mit den Menschen gesprochen hätten. Mir ist gerade so, als wollten sie allaugenblicklich anfangen, und als könnte ich es ihnen ansehen, was sie mir sagen wollten. Es muß noch viel Worte geben, die ich nicht weiß: wüßte ich mehr, so könnte ich viel besser alles begreifen."48

Im T r a u m , wie später auch im geheimnisvollen Buch entdeckt er sich als Teil der Menschheitsgeschichte, die von den mythischen Zeiten an bis in die G e g e n w a r t in individuellen Variationen doch einheitlich erscheint. Sein T r a u m lässt ihn in „wilden, unbekannten G e g e n d e n " und in unbekannten Zeiten wandern, wo ihm „wunderliche Thiere" und „mannichfaltige Menschen"4 9 begegnen, aber sein Leben ist als Prozessua-lität, a n g e f a n g e n v o m L e b e n im chaotischen Urzustand der Menschheit geschildert, wobei er als ein Repräsentant der .Vielfältigkeit in der Einheit' erscheint. Im alten Buch, das das Schicksal eines provancalischen Dichters darstellt, und das „in der Verlassenschaft eines Freundes"5 0 vor längerer Zeit in Jerusalem v o m Einsiedler g e f u n d e n w o r d e n ist, entdeckt Heinrich sich selbst.

Typische Figuren des Mittelalters, wie Kreuzritter sowie morgenländische G e f a n -gene (Zulima), treten als Vermittler z u m Geschichtsverständnis von Heinrich auf, sie sind f ü r ihn in ihrer Typenhaftigkeit und besonders durch ihre Lieder bedeutungsvoll.

Gerade diese B e g e g n u n g e n m a c h e n ihm bewusst, dass entgegengesetzte Tendenzen der Zeit auf einen Mittelpunkt b e z o g e n werden sollen, was erst in der Dichtung, in der neuen M y t h o l o g i e möglich wird. Nicht die geschichtliche Zeit spielt im R o m a n eine zentrale Rolle, sondern die D e u t u n g des Mittelalters als Ü b e r g a n g s p h a s e in der Geschichte:

47 Novalis: Werke, Bd. 2, S. 352.

4« Novalis: Werke, Bd. 1, S. 240-241.

49 Ebd., S. 241.

50 Ebd., S. 313.

„In allen Übergängen scheint, wie in in einem Zwischenreiche, eine höhere, geistliche Macht durchbrechen zu wollen; und wie auf der Oberfläche unseres Wohnplatzes, die unterirdischen und überirdischen Schätzen reichsten Gegenden in der Mitte zwischen den wilden, unwirthlichen Urgebirgen und der unermeßlichen Ebenen liegen, so hat sich auch zwischen den rohen Zeiten der Barbarey und kunstreichen, vielwissenden und begüterten Weltalter eine tiefsinnige und romantische Zeit niedergelassen, die unter schlichtem Kleide eine höhere Gestalt verbirgt."51

Die B e g e g n u n g mit d e m B e r g m a n n , b e s o n d e r s aber seine Lieder ermöglichen es Heinrich, den Z u s a m m e n h a n g v o n Naturgeschichte und Menschheitsgeschichte zu erschließen. Einen ähnlichen Z u s a m m e n h a n g deuten die f r ü h e r von den K a u f l e u t e n erzählten mythischen Geschichten an, die in der einheitsstiftenden, mythenschaffenden W i r k u n g des Liedes von Arion sowie in der E h e des Atlantis-Mythos, w o die die Macht der K u n s t vetretende Königstochter und der Jüngling, der im Einverständnis mit der Natur lebt, sich vereinen, v o r h a n d e n sind. In seinen Liedern, die als Synthese der beiden Bereiche zu betrachten sind, wirkt die D i c h t u n g im m e n s c h l i c h e n Bereich versöhnend. Diese G e s c h i c h t e n der ,alten' M y t h o l o g i e b e w a h r e n bis in die m o d e r n e Zeit hinein ihre Bedeutung sogar f ü r Leute, die sich vorwiegend d e m praktischen Leben z u w e n d e n . Ihre A u s w i r k u n g bleibt aber auf ihre Zeit beschränkt, in der Erzählgegen-wart werden sie als bloße Fiktionen gedeutet. Das S c h l u s s m ä r c h e n des ersten Teiles, das das Werk des Dichterkönigs Klingsohr ist, ist ein Beispiel der ,neuen Mythologie', die eine Synthese der griechischen und g e r m a n i s c h e n M y t h o l o g i e , der Vergangenheit, G e g e n w a r t und Z u k u n f t , der unterschiedlichen S p h ä r e n des Seins (menschliche Welt, untere Welt, M o n d r e i c h bzw. Astralwelt) verwirklicht. Die m o d e r n e n naturwissen-schaftlichen Kenntnisse sowie Philosophie und K u n s t werden in eine Einheit gebracht, w o d u r c h eine ,künstlich geordnete Verwirrung' entsteht. Die Allegorie der Dichtung, Fabel verbindet durch ihre freie Tätigkeit alle Sphären des L e b e n s , sie wird zur einheitsstiftenden K r a f t , die die zerstörte ursprüngliche H a r m o n i e künstlich neu h e r v o r z u r u f e n fähig ist, w o d u r c h sie die E r n e u e r u n g des L e b e n s auf einer höheren Stufe bewirkt. Ihre Tätigkeit besteht im Verbinden, das Resultat ihrer Tätigkeit ist das Bild der „ k ü n f t i g e n Welt",52 d e n n das M ä r c h e n - so N o v a l i s - ist eine „Prophetische Darstellung".5 3 H a r d e n b e r g fordert „neue, originelle Märchen",5 4 in d e n e n eine Welt, die der Welt der ,Wahrheit' (der G e s c h i c h t e ) entgegengesetzt ist, erscheint. Diese M y t h e n / M ä r c h e n sind „Bekenntnisse eines w a h r h a f t e n , s y n t h e t i s c h e n ] Kindes - eines idealischen Kindes",5 5 das letzten E n d e s bewirkt, dass die G e s c h i c h t e zum M ä r c h e n wird, dass die Welt w i e d e r eine M y t h o l o g i e hat.

D a s M ä r c h e n von Klingsohr endet zwar mit e i n e m idyllischen Hochzeitstableau, aber das M ä r c h e n e n d e und das R o m a n e n d e fallen nicht z u s a m m e n . Heinrich hat mit d e m M ä r c h e n eine L e h r e erhalten, die ihm als Vorbild f ü r seine eigene, originelle

Ebd., S. 249.

52 Novalis: Werke, Bd. 2, S. 514.

53 Ebd.

54 Ebd.

55 Ebd.

Mythologie dient. Er, der vor kurzem Mathilde und durch sie die Liebe kennen gelernt hat, muss im Traum ihren baldigen Tod zur Kenntnis nehmen. Trotzdem hat er weitere Synthesen, so die des Lebens und des Todes zu verwirklichen, das Endliche im Unendlichen a u f z u h e b e n , aus sich herauszugehen u m sich „in ein Du - in ein zweites Ich [zu] verwandeln."5 6 D a er auf diese Art und Weise das Z e n t r u m f ü r sein Leben hervorbringen kann, m u s s es i m m e r wieder neue Dichterpersönlichkeiten geben, die in individuellen Varianten seine m y t h e n b i l d e n d e Tätigkeit als solche anerkennen und weiterführen und dadurch M i t s c h ö p f e r des ,unendlichen G e d i c h t s ' werden.

56 Ebd., S. 549.