< von Theodor Thienemann.
M eine D am en un d H erren!
D ie G edächtnisfeier, die h eu er in W eimar, a n vielen S tä tte n des E rdballs u nd soeben hier in dieser Stunde G o eth es'G eist in unsere G eg en w art gerufen h at, be
stä tig t die frohe G ew ißheit, die in feierlichen Stunden g erne ausgesprochen w ird: d er Sinn von Goethes D asein ist n ich t vergangen au s dieser W elt, denn G oethe sp rich t noch heute zu uns, w enn w ir ih n rufen, w en n w ir seiner bedürfen. U n d w ir b ed ü rfen seiner m eh r denn je als H ilfe u n d S tü tze in der N ot d er Zeit.
Z erstreut ist schon längst das freundliche G edränge d er N ächsten un d der N ahen, die den Menschen Goethe gesehn, die seine Stimme gehört, die sein geschriebenes W ort m it dem inneren Sinn noch als gesprochenes Wort vernom m en haben, diese w enigen, G lücklichen, ver
sch w an d en schon längst aus d er W elt. Wie a b e r diese einstige M itw elt im F luß der Zeit versinkt, w äch st ja h r- au s-jah re in die Zahl der U nb ekannten, deren Summe w ir N a c h w e l t nennen: M enschen, die bei aller Ferne d e r Zeit m it G oethe leben, m it ihm Um gang pflegen, in seinem W erk R atschlag und W egw eisung suchen, die von seinen B riefen u n d T ag eb ü ch ern durch das eigene L eben begleitet w erden, die sich in schw eren Stunden a n seinen W orten aufrichten, M enschen, die ih r In n e r
stes u n d Persönlichstes v eräu ß erlich t fühlen, w enn sie all zu la u t ü ber Goethes G eist sprechen h ö ren oder selbst gezw ungen sind d arü b er zu sprechen. N achw elt nennen w ir die stum m e Ü berein kun ft der U nbekannten, die einm al in den Zimmern des H auses am F rau en p la n das G efühl erg riffen hat, als h ä tte der H err des H auses diese Zimmer eben verlassen; es sind Menschen, die in
F r a n k f u r t und Leipzig, in S tra ß b u rg und Sesenheim E r
in n e ru n g an d en jungen G o eth e gesucht h a b e n ; denen W eim ar und Je n a , Tiefurt u n d Belvedere, Ilm en au und E ttersburg ein S tü ck schöne E rinnerung a n das eigene Leben gew orden ist; die d en H arz oder die Schweiz, K arlsb ad oder T irol in dem ungew issen G efü h l d u rch
s tre ift haben, als m üßten sie d o rt irgendwo G oethe den W and erer begegnen; es sind M enschen, die s e i n e Sehn
su ch t nach Ita lie n gekannt haben, die die Italienische R eise nach S ü d en geführt h a t, die vielleicht im G ar
te n der Villa Borghese dem D ich ter von Egm ont, Ip h i
genie und F au stfrag m en t F olge geleistet h ab en , die in d en P ark an lagen der Villa G iu lia die tragische Begeg
n u n g von O dysseus und N a u s ik a a mit dem D ich ter des N ausikaa-F ragm entes d u rc h d a c h t haben, die die P flan
zen dieser P ark an la g en b etrach teten , d en n in diesen P flanzen hatte einst Goethe die U rpflanze erschaut — u n d die beglückt gewesen sind, w enn sie a u f dem Monte Pellegrino die Inschrift en td eck ten , die d a ra n erinnert, d a ß dort einst Goethe g ew eilt hat. U nd N achw elt ist w ieder die stum m e Ü b erein k u n ft jener zahllosen U nbe
kannten, die von allen H im m elsrichtungen n ach W eim ar gepilgert, u n d d o rt einmal ersch ü ttert vor dem Sarg in der F ü rste n g ru ft gestanden sind. N achw elt nennen w ir also nicht das sogenannte große P u blik u m , das so
ziologisch in teressan t sein m ag, nicht die u n b ek an n te Menge, deren B eifall selbst dem Herzen des D ichters bange m acht: N achw elt n e n n en w ir die Sum m e dei Kreise, die sich wie Jah resrin g e um G oethe legen:
K reise der A userw ählten, d en en Goethe in der G esam t
h eit seines D aseins gegenw ärtiger, v e rtra u te r gew orden ist, als selbst den v e rtra u te n Zeugen u n d G efährten
seines Lebens.
Was tre ib t ab er den M enschen, die S p u ren eines v er
gangenen L ebens zu verfolgen? Was d rä n g t den Men
schen, sieh in ein fremdes L eben einzunisten? Was ist es u m die m agische A n ziehu n gsk raft von all dem, was einst
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Goethe b e rü h rt h at ? W oran liegt es, d a ß uns die M en
schen, deren Schicksal in Goethes L eben eingeflochten w ar, bis heute lebendig geblieben sin d ? W ir suchen A n t
w ort a u f all diese F rag en in dem einen Satz:
N ur allein d er Mensch Vermag das U nm ögliche:
E r kan n dem A ugenblick D auer verleihen.
U nsere B etrachtung richtet sich a u f eine D au er des Geistes von ganz o b je k tiv er N atur, sie richtet sich a u f den W illen zu b eh a rre n in der Zeit h ie r au f E rden, a u f die besondere und persönliche A rt, w ie Goethe m it der V ergänglichkeit gerungen hat.
Aus dem Wissen um die V ergänglichkeit des L ebens w ächst die ewig m enschliche Sorge u n d Sehnsucht: das Teuerste un d Beste, w as uns gegeben ist, aus der F lu c h t der Erscheinungen zu retten und in D a u e r und R u h e zu erhalten. Diese Sorge u n d diese S ehnsucht ist ein Vor
recht des Menschen u n d Goethe ist ein er der A u serw äh l
ten, die dieses V orrecht des M enschen besonders au szeich net. D as Wissen von d e r Zeit erg riff ih n tiefer als an d e re E rd en k in d er und m eh r als andere M enschen setzte e r restlos seine ganze E xistenz in das eine höchste s tre b e n de B em ühenein, Tod u n d V ergänglichkeit zu ü b e rw in den u n d der Ew igkeit teilh aft zu w erden. Viele su ch ten vor un d nach G oethe dem all zu F lü ch tig en unseres D a seins zu e n trin n e n : H eilige und H elden, diesseitig R u h m süchtige un d jenseitig G ottsuchende, M achtm enschen und D enk ernaturen, je d er a u f seine Weise w u rd e getrieben sich anzuklam m ern a n etw as D auerndem ,
„sich einem R einem , H öhern U n b ek an n te n aus D a n k b ark eit freiw illig h inzugeben“, a lle in n u r w enige d e r großen u n d größten V ergänglichkeitsbew ußten h a b e n wie G oethe um B eständigkeit geru n g en u n d w ir kennen keinen an d ere n faustischen Menschen, d er den flüchtigen A ugenblick in d e r unendlichen Zeit in b rü n stig er ergriffen hätte, der in den einen S a tz :
„Verweile n o ch “ die ganze F ü lle seines D aseins hin ein zudrängen verm ocht hätte.
E rsch ü ttern d ist dieser W ille zu b e h a rre n in der u n endlichen Zeit erst dann, w e n n sich der M ensch dem A b g ru n d und d e r V ernichtung n ah e weiß, w e n n er das U n überw indliche u n d U nbesiegbare der feindlichen M acht, d er er sich w idersetzt, vollends d urchschaut. Im U r g ru n d von G oethes Dasein leb t eine A ffin itä t mit d er Zeit, ein U rg efü h l für das U nendliche, d as ihn erschau
e rn läß t u n d d ennoch anlockt, wie d en Fischer d ie unendliche F lu t: ein G efühl, das ebenso religiös wie m e
taphysisch g e n a n n t w erden kann.
Dieses todesnahe W issen von der Zeit scheint G oethe in der religiösen A tm osphäre des from m -bürgerlichen E lternhauses zugew achsen sein. In den frü h esten D o k u m enten seiner F ra n k fu rte r K indheit fin d en wir d ie m erkw ürdig einstimm igen Zeilen: „Mors ultim a lin ea re ru m “, „E rin n e rt euch a n m einen T od “, „Ich m öcht n ic h t gern vergessen sein“ , dazu die spielerische B e
gründung, d aß den A utor, w enn er sch reib t, dasselbe bewege, w as a u c h A lexander und alle H eld en der V or
zeit zu groß en T aten an g etrieben habe: — k nospenhaft u n reif leuchtet in dieser ersten L iteraturtheorie schon die E rk en ntnis au f, die vollendet den sterben d en F a u s t erfüllt.
Diese F u rc h t vor Tod u n d V ergänglichkeit w andelt sich in Rokoko-Leipzig in d as Wissen eines früh E rn ü ch terten, der die U n beständigkeit aller h o h en Dinge h a lb w ehm ütig h a lb zynisch z u r K enntnis nim m t. Der L e ip ziger Goethe durchschaut die F latterh aftig k eit von all dem, was im Moment als absolut und ew ig scheinen m ag: sei es d ie w echselnde L ust, das G lü ck , die F reude, der W unsch eines kleinen Mädchens, die Laune des V erliebten: es sind alles unbeständige Dinge. D ieser ju n g e H edonist weiß, das Schöne ist n u r deshalb schön, weil es w ie die g au keln d dahingleitende W elle, w ie die fla tte rn d e Libelle flü ch tig -u n faß b ar ist, w eil
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der farbige A bglanz schw indet, will m an ih n ergreifen u n d zergliedern. D er Zusam m enbruch, d e r folgt, die Todesnähe h a b e n dieser ersten G razienphilosophie ein jä h es Ende b e re ite t und d as V ergänglichkeitsbew ußt
sein im jungen G oethe z u tie fst aufg ew ü h lt: „ich weiß w ie ich gezittert h a b e “ schrieb er, als er a n dem Ab
g ru n d vorbei w a r. So w urde e r reif fü r H erd er, fü r den großen Lehrer d e r Zeit.
In H erder le b te das religiöse u nd m etaphysiche Ver
ständnis für die Entw icklung in der Zeit, f ü r das Kei
men, Treiben, K nospen, B lühen, Reifen, T rag en , W el
k en u n d S terben, dem alles Seiende u n te rste llt ist:
Mensch und T ier, Pflanze u n d Gestein, alles beschreibt denselben K reis im Wandel d e r Zeit, alles is t G eschich
te. Goethe e rfa ß te diese große Lehre der Zeit; sein Ver
gänglichkeitsbew ußtsein e rh ä lt je tz t die m etaphysische P rägung, da ih n H erder g eleh rt h at:
N ach ewigen e h 'rn e n G ro ß en Gesetzen M üssen w ir alle U nseres Daseins K reise vollenden.
Diese A ffin itä t mit der Zeit ist ein U rphänom en von Goethes W elt, sie w echselt u n d w and elt sich mit je d er Lebensstufe u n d ist doch u n w an d elb a r m it Goethes E xistenz verw achsen.
Ein leicht sichtbares Zeichen dieses w ach en Zeitbe
w ußtseins ist das sparsam e H au sh alte n m it d e r Zeit, der flüchtigen, w ie das Goethes L ebensführung vorbildlich verw irklicht, diese unvergleichliche K unst, die keine S tunde ganz le h r oder d u m p f vergehen lä ß t, die der Mensch unserer W elt auch d a n n b ew u n d ern w ürde, w äre ihm sonst G oethes W erk verschlossen. G oethe ist fleißig, arbeitsam u n d tätig gew esen: die rastlose Tätig
k eit w ar ihm d e r beste W eg z u r S elbsterkenntnis und die sicherste G e w ä h r k ü n ftig er Seelendauer; er w ußte, w ir selbst entscheiden, ob die Zeit u ns reich
be-sch en kt verläßt od er leer zerrint. Weil G oethe das Le
ben als göttliches G eschenk, das u n s a n v e rtra u t ist, ge
w issenhaft verw altet, deshalb ist er so p ein lich genau in B uch führu ng u n d R echenschaft über d as Soll u n d H ab en eines je d en Jahres, eines je d e n Tages:
mag sein T agebuchführen, das Schem atisieren in D ia
rien, Journalen, T ag- und Jah resh eften von a u ß e n be
sehenvielleicht m an chm al ped antisch scheinen: es ist doch A usdruck des bangen Bew ußtseins, d a ß ein jedes J a h r, ein jeder T ag u n d eine jed e Stunde unseres Lebens unersetzlich ist u n d nie w iederkehrt. „Dieses L eben ist fü r unsere Seele v iel zu k u rz“ sagt schon d e r junge G oethe in seiner Shakespeare-R ede, das S p aren m it der Zeit ist das Erkennungszeichen a ller höher organisierten N atu ren, so m ahnt G oethe in B riefen an S chiller: dieses bew ußte V erw alten d e r Zeit hat m ehr zu sagen fü r u n ser Geschlecht, als all das Zeitvergeuden u n d F au len zen genialer R om antiker.
In der b ew u ß ten Z eitverw altung liegt eine M oralität beschlossen: der ech t bürgerliche Sinn für d as D au er
hafte, Solide, Beständige, E chte und T ü ch tig e; die höchste Steigerung erreicht dieser bürgerliche, seinem innersten Wesen n a c h konservative Sinn in d em Willen zu b eh arren in d er unendlichen Zeit. Die G esinnung, die au f das B eständige gerichtet ist, m acht den Menschen d au erh aft, sie fü h rt ihn zur höheren S ittlichkeit. So em pfindet Goethe die atm osphärische W irk u n g der ew igen S tadt als eine sittliche W irkung, d as Antike w irk t a u f ihn d u rch seine D au erhaftigk eit, zw eitausend Jah re zeugen von ein er inneren Solidität, „m it der die Seele gleichsam gestem pelt w ird “. W ie die D a u e r in der Zeit fü r Goethe eine Quelle sittlicher E nergien ist, so gilt sie ihm auch als W ertm aß d e r Dinge. D as Urteil der Zeit trifft u n feh lb a r, das E chte bleibt d e r N achw elt unverloren. U nd w eil das W ertvolle und E ch te nicht spurlos aus dieser W elt verschw inden kann, deshalb ist auch das F ru ch tb are un d F örd ernde ein P rü fstein , das
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d en inneren W ert d er Dinge o ffe n b a r m a ch t D ieser G laube a n die Zeit u n d N achw elt ist vielleicht die Q uelle der tiefen Sym pathie, die Goethe f ü r das Leben u nd alles Lebendige hegt: den n nur das Lebendige ist fr u c h t
b a r u n d fördernd, n u r das Lebendige ist zu k u n ftsträ ch tig, n u r Leben erzeugt neues Leben u n d somit ewiges Leben. D auerh aftig k eit u n d B eständigkeit bedeuten fü r G oethe n ich t das M unifizieren lä n g st überlebter Zu
stände, nich t eitle V erjüngung, w ie sie in der N ovelle
„D er M ann von fünfzig Jah ren “ b eisp ielh aft dargestellt w ird — das D au erh afte, Solide, E ch te u n d Consistente, in höchster Steigerung: das U nsterbliche ist im m erw äh
rende T ätigkeit und W irkung, es ist tä tig und g esch äf
tig und erneu ert sich im m erfort, d as heißt: u nsterb lich
* ist, w as ew ig lebt u n d im m er im W erd en ist. Noch in S tra ß b u rg entdeckte Goethe a u f ganz em pirische Weise eine Lehre von dem H eute: au s dieser L ehre w uchs ihm die E rk en ntnis, daß die G egen w art alles ist u n d alles entscheidet. D er Mensch ist nicht b e ru fe n zu je n er zeitlosen D auer, zu jener schlechten U nendlich
keit, die auch der d u m p fe Felsblock h at, an dem der Strom spurlos vorbeirauscht — der M ensch ist b eru fen zu je n e r anderen, zeitlichen D au er, d ie immer G eg en w a rt ist u n d sich jew eilig erneuert.
Diese Lehre von dem Heute, die G oethe in dem Se- senheim er F rühlingsrau sch en a u f ging, ist der Q uell des d an k b are n G lücksgefühls über das göttliche G eschenk des Lebens. Uns allen ist eine Z eitspanne als L ebens
d au er zugemessen, a b e r Goethe e rfa ß te dieses göttliche G eschenk des Lebens d an k b are r als an dere M enschen, er w ucherte mit diesem Schatz, w ie einer, den der nah e Tod an das fugit irrep a rab ile tem pus erinn ert und schon drängt die letzten S tu n d en ganz u n d voll in sich ein- gehen zu lassen. Seine Augen sind sch au en d und lic h t
d u rstig gewesen, w eil er w ußte, d a ß diese A ugen sich schließen w erden! D as U nvergleichliche an G oethes D asein ist diese ganz unverm ittelte, ursprüngliche
Stel-lung zum Leben: w ir begegnen in G oethe einem M en
schen, der inm itten aller W irrnis der Zeit sich au f das W e
sentliche b e s in n t: das g ö ttliche G eschenk des Lebens voll und ganz zu nehmen, in „ewig klingendem D asein“ d as Gebot der jew eiligen S tu n d e ganz zu erfüllen, d en n es gibt keinen anderen Sieg ü b er die Zeit, es gibt keine a n dere E w igkeit als die, die aus dem flüchtigen A u g en blick hervorw ächst.
Weil G oethes V ergänglichkeitsbew ußtsein so w a c h w ar, e rg riff er alle S ch u tz- und H eilm ittel, die sein en Schauer bezw ingen konnten. Solch eine Erlösung v e r hieß ihm d er G laube a n eine tran szend en te F ortex isten z der Seele u n d Goethe is t gläubig gew esen; diese A n g st d rängt ih n seine E xistenz in leiblichen N achkom m en zu verlängern, solch P alliativ gegen die V ergänglichkeit w ar ihm die W issenschaft, deren E rk en n tn is zeitlos g ilt:
vor allem ab e r Avar K u nst, D ichtung u n d L iteratu r d ie konservative Macht, die die flüchtige Seele zu geistiger D auer erhöhen kann. D e r D rang n ach U nsterb lich keit ist das innerste M otiv von G oethes D ichtung u n d von je d er großen D ic h tu n g ü b erh au p t. F rü h n e n n t Goethe seine D ich tun gen die a u f be w a h r ten F re u d e n und Leiden seines Lebens — D ichten ist ihm ein u n e n t
behrlich notw endiges S chutz- u nd H eilm ittel, M ittel zur S elbsterhaltung in d e r vergänglichen Zeit, D ich ten bedeutet ih m K unst im u rsp rü n g lich en S inn des W ortes, ein K önnen, das das einm alig F lüchtige des Lebens h e r ausstellt, die innere G lu t zur d au ern d en Form p rä g t, dam it das, w as einm al lebendig w ar, f ü r alle Zeit le b e n dig erhalten bleibe. W eil sich Goethe ganz der G egen
w art verschrieben hat, ist sein D ich ten immer G egen
w artsdichtung, G elegenheitsdichtung, Beichte, K onfes
sion, T agebuch gewesen, es gibt keine D ich tu n g G oethes, die nicht S elb sterk u n d u n g ist und n ic h t als ein S tü c k A utobiographie gedeutet w erden k an n . Goethe ist u n s zum Sinnbild des autobiographischen M enschen gew or
den. D er Mensch, der d a s literarische K unstw erk a u s
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dem eigenen L eben baut, erschein t erst s p ä t a u f hohen S tufen in der E n tw icklung des Geistes. Ih n treib t die oberste E h rfu rch t, die E h rfu rc h t vor sich selbst, er folgt dem schw eren G ebot der S elbsterkenntnis, er h at das W issen ü b er sich selbst, er ist v e rtra u t m it d er W eisheit, die nur dem reife n Alter gegeben ist: v e r tr a u t mit dem goldenen F arb en to n des Spätherbstes, d er immer an V ergänglichkeit u n d N achw elt erinnert. N ie bereitete sich aber ein M ensch in der S p häre d er D ichtung u n d L iteratu r so b e w u ß t a u f Tod u n d N ach w elt vor, w ie Goethe, der ganz der G eg enw art ergeben w ar. E r ist uns zum großen G leichnis des sich selbst erkundenden, seiner selbst bew u ßten , sich selbst erfo rschen d en M en
schen gew orden: er legte alle Zeugnisse seines D aseins freiw illig ab, er erschloß sich ganz der N achw elt: sein Leben ist w ie k ein anderes erh alten geblieben, w eil die Idee der N achw elt selbst ein F erm en t seines Lebens gewesen ist. Es ist symbolisch bedeutsam , d a ß w ir von Goethe keine Totenm aske k enn en : noch zu Lebzeiten ließ sich G oethe seine G esichtsm aske abnehm en, ebenso bestim m te er rechtzeitig die testam entarisch-letztgültige Form seiner W erke, er prägte selbst d u rc h autobiogra
phische S ch riften sein E rinneru ng sbild so, w ie er es fü r die N achw elt e rh alten w issen wollte. Als h ä tte er eilige V orbereitungen zu treffen f ü r eine lange Reise, fü r die große B ildungsreise in die U n end lichkeit der Zeit, so stellt er alles bereit, was ih n begleiten soll, w as ihm er
halten bleiben soll a u f dem seelenw andernden, gestalt
w andelnden W eg durch die E rinneru ng d e r Nachw elt.
U nd w as u ns Goethe so hinterlassen hat, ist eine fröhliche W issenschaft, d eren letzter S in n nicht all zu ferne liegt von religiösen Ü berzeugungen. W as begleitet uns durch die Zeit? Was m ach t den M enschen d au erh a ft?
W as ist das E w ige im M enschen? D ie A n tw o rt lau tet:
beständig ist das V ergängliche, die jew eilige G egen
w art. D er M ensch sei gegenw ärtig, er flü ch te nicht in die V ergangenheit, die ihm unw iederbring lich verloren
ist, er verliere sich n ic h t in die Z u k unft, die ih m ewig u n erreichb ar bleibt: die Z ukunft lä ß t sich n u r d a n n ge
w innen. w enn man die G egenw art zu beherrschen ver
mag. AVir sind v e rp flich te t dem Gesetz, w onach w ir a n getreten, w ir sollen festh alten an dem hic et nu nc, das uns zugemessen ist, w ir sollen die T reue halten a u c h der zeitlichen H eim at, in die w ir hineingestellt sind. D iese H eim at zu verleugnen, weil sie uns heute trü b u n d tro st
los scheint, w äre ungoethisch.
Ist aber diese L ehre von dem H eute kein I rrtu m ge
wesen? AVas hat diese Lehre noch zu bedeuten, d a u ns die Zeit m anchm al zu stocken scheint, da AVochen u n d Jahre in H offen u n d H a rre n leer zerrinnen und d ie Zu
kunft, deren E rlösung w ir alle erw arten, nicht kom m en will? AA^as soll das sparsam e H aushalten mit der Zeit, da viel M enschenleben m it seinen schönsten und besten S tunden in nichts zerfällt?AVozu das AAhichern m it der Zeit, da das A usharren gilt, die K u n st der P enelope: Zeit zu vernichten, nicht: Zeit zu gew innen? Das J a h rh u n
kunft, deren E rlösung w ir alle erw arten, nicht kom m en will? AA^as soll das sparsam e H aushalten mit der Zeit, da viel M enschenleben m it seinen schönsten und besten S tunden in nichts zerfällt?AVozu das AAhichern m it der Zeit, da das A usharren gilt, die K u n st der P enelope: Zeit zu vernichten, nicht: Zeit zu gew innen? Das J a h rh u n