• Nem Talált Eredményt

Rezeptionsgeschichtliche und ästhetische Aspekte

Von Anfang an drängte sich bei der Untersuchung dieses Themas der sich dann immer mehr erhärtende Eindruck, der allmählich zu einer Gewißheit wurde, daß die Beschäftigung, Auseinandersetzung und schließ­

lich Assimilation der von Rilke entworfenen lyrischen Welt einen wesent­

lichen Bestandteil innergeistiger und innerliterarischer Selbstverständi- gungsprozesse innerhalb des kleinen rumänischen Kultur- und Literatur­

betriebes darstellten. Somit kann und muß die Rilke-Rezeption bei den Rumänen — wie übrigens auch sonst in anderen geistigen Räumen — nicht als einfacher, von anderen geistigen Phänomenen losgelöster Assi- milations- und Befruchtungsprozeß, sondern als Teil vielschichtiger Be­

mühungen rumänischer Philosophen, Literaturbetrachter und Literatur­

schaffender angesehen werden, der mit wesentlichen Klärungsprozessen und Positionsbestimmungen innerhalb der rumänischen geistigen Strö­

mungen im Laufe unserer bewegten Geschichte in engstem Zusammen­

hang steht.

Um die übersetzerischen und eigenschöpferischen Leistungen ru­

mänischer Kulturträger und Kulturschaffender richtiger einschätzen zu können, um die Bedeutung der mit der Rilke-Rezeption in Rumänien verbundenen Aspekte und Momente umfassender zu begreifen, muß etwas weit ausgeholt und damit begonnen werden, zu zeigen, in welchem größeren Kontext auch diese Rezeption eingebettet war. Dabei müssen kulturmorphologische sowie allgemeingeistige Auseinandersetzungen in Betracht gezogen werden, die auf Eigentümlichkeiten und wesentliche Wertungsmomente sowie Wertungsmaßstäbe schließen lassen, die ihrer­

seits imagologische Bemühungen um die eigene Standortbestimmung in Rumänien in sich bargen. Mit diesen nur bei oberflächlicher Betrachtung als thematranszendent anzusehenden Erläuterungen soll über unaus­

weichlich notwendige, faktologisch ausgerichtete Ausführungen zu re­

zeptionsgeschichtlicher und rezeptionsästhetischer Relevanz gelangt wer­

den.

Die moderne rumänische Kultur wird von zwei bestimmenden Vor­

bildern gerprägt, an denen sie sich abwechselnd, je nach sozialen und

160 G e o r g e G uru: R i l k e u n d R u m ä n ie n

politischen Schichtungsmomenten, je nach vorherrschenden Interessen und Geschmacksrichtungen, zu orientieren bemüht: an dem französi­

schen und dem deutschen. Von den Aufklärern der Siebenbürgischen Schule über die Vertreter der Achtundvierziger-Bewegung oder die An­

hänger der „Junimea“-Bewegung bis zu den hervorragenden Gestalten der Zwischenkriegszeit und denjenigen der gegenwärtigen rumänischen Kultur und Literatur wiegt mal das französische, mal das deutsche Muster vor, oder gehen beide streckenweise in eigenartigen Synthese-Bemü­

hungen einher. Der französische Beitrag zur Konstituierung der rumäni­

schen Kultur ist in recht zahlreichen umfassenden Beiträgen dokumen­

tiert worden,1 denen sich in den letzten Jahrzehnten gezielte epochen- und gegenstandsgebundene Forschungsergebnisse hinzugesellten. Auf Spuren von Befruchtungserscheinungen durch deutsche geistige Strö­

mungen und Persönlichkeiten begab man sich sowohl in der rumänischen als auch in der ausländischen Forschung recht spät.2 Wichtige Momente dieses Aspekts wurden auf einem Bukarester Kolloquium 1983 umfas­

sender dokumentiert.3

Verstanden und untersucht wurden diese Bemühungen nicht im Sinne einer „Nachahmung“, die sich eigentlich auf materiell-zivilasitorische Aspekte bezieht, sondern in jenem einer „Übernahme“ von Anregungen, die dazu angetan sind, die Schaffung eigener, persönlich und geistig­

landschaftlich geprägter Kulturwerte zu fördern. Von den früheren Epo­

chen rumänischer Kultur- und Literaturentwicklung bis zur Gegenwart wurden solche „Synchronisierungsbestrebungen“ den traditionalistischen Ausrichtungen entgegengesetzt und von der Kunst- und Literaturbe­

trachtung als „Öffnung für die Kulturen des Auslands“4 oder als ein Bestreben angesehen, „den Anschluß der eigenen literarischen [und kul­

turellen; G. G.] Öffentlichkeit an die europäische [Kunst- und; G. G.]

Literaturentwicklung“ zu vollziehen.

Als Höhepunkte der „Antworten des rumänischen Geistes“ auf An­

regungen „des deutschen“5 stehen allgemein zwei bedeutende Epochen,

„die heute als die klassischen gelten, entschieden unter deutschem Ein­

fluß: die Epoche Eminescus und die zwischen den beiden Weltkriegen, die Epoche Lucián Blagas“,6 wie der gegenwärtige Philosoph Constantin Noica es einmal auf eine kurze Formel brachte.

Mit dieser zweiten Epoche der Zwischenkriegszeit sind wir im Zuge dieser Auseinanderstzungen der rumänischen Intellektuellen mit deut­

schen philosophischen und literarischen Hervorbringungen bereits bei dem Zusammenhang angelangt, in dem auch die Rezeption des Rilke- schen Werkes ansetzt. Der Bogen reicht also von den tiefgreifenden

Ge o r g e G u r u : Ri l k eu n d Ru m ä n ie n 161 Anregungen durch Herder, Schiller und Kant in der Zeit der Achtund­

vierziger-Bewegung über die von Feuerbach, Fichte, Goethe, Hegel, Herbart, Alexander von Humboldt, Klopstock, Lessing und Schelling, vor allem aber von Novalis und Schopenhauer in der Zeit der „Junimea“- Bewegung bis zu der fruchtbarsten Zeit der rumänischen geistigen Ent­

wicklung eben dieser Periode zwischen den beiden Weltkriegen. Da rückt vor allem das Interesse für die Beziehungen zwischen Philosophie und Kunst in den Vordergrund, die in großen Synthesearbeiten von Mircea Florian, Tudor Vianu und Lucian Blaga durchdacht und zu unverwech­

selbar eigenen Gedankengängen schöpferisch weiterentwickelt wurden.

Waren Mircea Florian ein Vollblutphilosoph und Tudor Vianu ein aus­

gesprochener Ästhetiker, so gelang Lucian Blaga die in der rumänischen Kultur einzigartig dastehende Personalunion von Kulturphilosoph und Lyriker. Kein Wunder also, daß die Anregungen, die von der Rilkeschen Gedankenwelt ausgegangen sind, bei Blaga — wie im übrigen auch bei Ion Pillat — einen starken eigenschöpferischen Widerhall auslösten, wie unsere weiteren Ausführungen bruchstückhaft hervorheben werden.

Im Zuge der immer stärkeren und deutlicheren Hinwendung des rumänischen Kultur- und Literaturlebens zur deutschen Geistigkeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die nicht zuletzt durch allgemein-soziale und politische Zusammenhänge vor, während und nach dem ersten Welt­

krieg mitbewirkt wurden, gewinnt das Interesse für die neueren Aus­

richtungen von Kunst und Literatur in Deutschland an Boden. Bedingt durch eigene avantgardistische7 und sogar — in der Bukowina und der Moldau — expressionistische8 Bestrebungen, rückt der deutsche Expres­

sionismus immer mehr ins Blickfeld rumänischer Intellektueller, wie die gründliche, diesbezüglich bahnbrechende Studie von Ovid S. Crohmäl- niceanu Die rumänische Literatur und der Expressionismus und jene von Doru Grigorescu Geschichte einer verlorenen Generation: Die Expressioni­

sten überzeugend belegen.9 Das Unbehagen am althergebrachten Muster traditioneller Denk- und Aussageweisen, zugleich aber auch das U n­

behagen an verschiedenen naturalistischen sowie impressionistischen Spielaarten der modernen Kunstausrichtungen führten — Hand in Hand mit den tiefgreifenden Veräderung im ökonomischen und sozialen Be­

reich an der Jahrhundertwende und am Vorabend des Ersten Weltkrieges

— zu einer bewußten Hinwendung zu neuen Horizonten und Verfah­

rensweisen, zur Suche nach ansprechbaren Mustern. Nicht von ungefähr geschieht der Bruch mit der erstickenden, engstirnigen Bodenständigkeit und Heimattümelei fast synchron sowohl in der rumänischen (von Alc- xandru Macedonski über Tristan Tzara, Ion Vinea bis Lucian Blaga) als auch in der deutschen Literatur in Rumänien (letztere durch die er­

162 G e o r g e Guru: R i l k e u n d R u m ä n ie n

neuernden, den Provinzialismus überwindenden Bemühungen der von Adolf Meschendörfer geleiteten Zeitschrift Die Karpathen, 1907-1914).

In dieser Zeit geistiger Anregungen findet auch der Kontakt rumä­

nischer Dichter mit dem Werk Rainer Maria Rilkes statt. Lucian Blaga unternimmt während seines Wien-Studiums (1918-1920) erste Versuche, Gedichte Rilkes aus dem Buch der Bilder zu übersetzen.10 Ohne an die rumänische Öffentlichkeit direkt gelangt zu sein, erregeten auch die Briefe an einen jungen Dichter, die Franz Xaver Kappus 1929 veröffentlichte,11 die Aufmerksamkeit rumänischer Intellektueller und Dichter, die im Zuge der immer stärkeren Hinwendung zum deutschen geistigen Leben immer ausführlichere Informationen aus diesem Raum bezogen. War doch der Umstand, daß der junge Briefpartner ein in Temeswar aufgewachsener junger Mann war, dazu angetan, dieses Interesse wesentlich zu steigern.

1883 in Temeswar geboren, entschließt sich der noch nicht zwanzig­

jährige Kappus, Rilke sein mit dichterischen Absichten erfülltes Herz auszuschütten. In einem ausführlichen Nachwort zu einer rumänischen Ausgabe12 (der eine frühere vorausgegangen war13) erläutert Andrei A.

Lillin Ursachen, Umstände und Auswirkungen des bis 1908 andauernden Dialogs und erwähnt dabei Rilkes Sinn für gleiches im Zeichen des Mili­

tärs stehendes Schicksal, die Indentität künstlerischer Bemühungen sowie das Komplementaritätsbedürfnis Rilkes als förderliche Begleitumstände.

Rilkes Hinweise auf Jens Peter Jacobsens Roman Niels Lyhne sowie auf das Schicksal seines Helden fallen bei Kappus jedoch auf keinen frucht­

baren Boden. Seine bereits in Temeswar begonnene, in Berlin fortgesetzte literarische Tätigkeit entfernte ihn immer mehr vom bewunderten Vor­

bild und ließ ihn sich am Schnittpunkt des Protestes eines Alfred Kubin, Georg Kaiser oder Karl Sternheim und der Ironie von Albert Ehrenstein und Kasimir Edschmid ansiedeln. Kappus starb 1966 in Berlin.

1923 erschienen in Aderltrul literar ¡i artistic die ersten Fragmente aus Rilkes Stundenbuch in der Übersetzung von Emil Dorian. Für weitere Übersetzungen sorgt in derselben Publikation Ion Pillat, der sich wa.il- verwandtschaftlich zu Rilke hingezogen fühlte und dessen Werk oft in die Nähe des Rilkeschen lyrischen Duktus gerückt 'werden sollte. Diesem Umstand ist zu verdanken, daß 1924 in der Zeitschrift Cugetul romänesc die von Ion Pillat und Oskar Walter Cisek besorgte Übersetzung der Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke erschien. Während der Übersetzung hatte Ion Pillat Rilke Briefe geschickt, auf die der Autor des Cornets mit einem ausführlichen französisch geschriebenen Schreiben antwortete.14 1925 taucht Rilkes Name auch in den Spalten der angese­

henen Kronstädter Zeitschrift Klingsor (12/1925, S. 450-453) auf, wäh­

Ge o r g e Gu t u: Ril k eu n d Ru m ä n ie n 163 rend 1926 sich Lucian Blaga in einem in der Viafa literarfr erschienenen Interview seine Wahlverwandtschaft mit Rilke bekannte:

„Wenn ich meine Sympathie zu bestimmten deutschen Dichtern der Gegenwart bekennen müßte, so würde ich eher Georg Trakl, Werfel, Theodor Däubler, Rainer Maria Rilke erwähnen, mit denen ich denselben gegenwärtigen Rhythmus teile, da wir die Grenze der alten Kunstformel sprengen mit Blick auf neue Hori­

zonte.“ 15

Ausgehend von abschätzigen Äußerungen in einigen Zeitschriften, nahm die angesehene Publikation Adcvärul literar ¡i artistic Stellung und präsentierte dem Publikum Ausschnitte aus Rilkes Werk (Wie starb der alte Timofei; übersetzt von Alice Gabrielescu) sowie Momente aus Rilkes Leben. Nicht nur Blaga, sondern auch andere rumänische Publizisten äußern sich daraufhin über Rilke: Lotar Rädäceanu, Karl Kurt Klein und Ion Sin-Giorgiu heben die Musikalität der Rilkeschen Lyrik, Rilkes kos­

misches Gefühl eines überzeugten Pantheisten sowie den gesamteuropä­

ischen Synthesecharakter seines Mystizismus hervor.16

Als weiterer Rumäne, der Rilke der einheimischen Öffentlichkeit präsentiert, tritt der Ästhetiker Mihai Ralea 1928 mit seinen Aufzeich­

nungen über Rainer M aria Rilke auf. Den Anlaß dazu bot die Kunde vom Tod des leukemiekranken Dichters. Die Zerbrechlichkeit des Zartbesai­

teten, sein wandelndes unruhiges Leben, die kindliche Unschuld prä­

destinierten ihn zu diesem kläglichen Ende. „Wie alle Kinder, bevölkert er die Welt mit geheimnisvollem Leben. Er belebt die erlahmte Seele der Dinge“ und vollzieht dabei den Schritt zum Pantheismus, denn „Rilke begegnet Gott überall, in allen Erscheinungsformen des Universums“, 17 ohne sie ins Gestaltlose, Dunkle hinabgleiten zu lassen, wie dies im Falle des Novalis geschah. Die Vorahnung des Todes habe Rilke sein Leben lang beherrscht als einen, des sein Leben niemals voll genießen konnte.

Rilke sei der „Dichter“ par excellence, die Dichtung fiir ihn eine Er­

kenntnistheorie, eine Ästhetik, eigentlich alles gewesen. Wie die indischen Dichter nahm er das Leben als einen Alptraum wahr, seine Empfin­

dungen waren keine Informationsquelle, sondern Vorwände zu seinen Träumen. Seine Traumwelt sei jedoch einem logischen Zwang unter­

worfen, wie die in den Aufzeichungen des M alte Laurids Brigge erzählte Episode vom Tode des Dichters Felix Arvers belege. Ralea untersucht die innerweltlichen Erfahrungen, die Ausprägung jener forma mentis Rilkes und betrachtet aus diesem Blickwinkel Rilkes gesamtlyrisches Schaffen.

164 Ge o r g e Gu j u: Ri l k eu n d Ru m ä n ie n

Der Bergsonismus und die Auswüchse der damals immer mehr Ve­

rbreitung findenden Lehre Freuds machen sich in dieser psychologisie- renden, textranszendenten Deutung — von der Warte des heutigen Her- meneutikers aus gesehen — recht unangenehm bemerkbar. Dem fran­

zösischen nachimpressionistischen Essayismus zahlt der Interpret einen recht hohen Tribut. Ralea war eben kein Dichter, sondern Ästhetiker, Psychologe und Logiker in einer faszinierend-verwirrenden Personal­

union. Und im übrigen eine einsame Stimme dieser Art unter den Rilke- Kommentatoren und -Interpreten in Rumänien. Die Dichter fühlten sich angeregt, sich selber zu Wort zu melden.

Ion Pillat war der berufenste dazu. Er selber hervorragender Dichter, einfühlsamer Übersetzer Rilkescher Werke ins Rumänische, gibt Ion Pillat schon im Titel seines Aufsatzes jene eingangs erwähnten Vorbilder- Dualität wieder, die die kleine rumänische Geistes- und Kulturwelt in die eigentlich günstige Lage versetzte, aus beiden Quellen zu schöpfen und den synchronen Überblick über gesamteuropäische Entwicklungen zu bewahren: Valéry, Rilke und die reine Dichtung.1* In diesem Aufsatz rekonstituiert Pillat Valerys und Rilkes Biographien, untersucht und vergleicht das dichterische Werk dieser beiden hervorragenden Autoren.

Ausgehend von einem „europäischen lyrischen Geist“ sowie von der These des Henri Brémond über die „reine Dichtung“, spürt Pillat Analo­

gien und Unterschiede zwischen „einem französischen und einem deut­

schen“ Dichter auf. Beide seien dem „reinen Begriff der Idee, des Gefühls, der Empfindung“ verpflichtet, den sie „durch und über Materie und Raum, in der Seele und in der Bergsonschen Zeit“ festzuhalten versuchen.

Die Unterschiede erhebt Pillat in den Rang allgemeiner Relevanz und diese betreffen die Gesamtheit der jeweiligen nationalen Dichtungen, für die Valéry und Rilke stellvertretend untersucht werden, stets jedoch mit Blick auf eigenspezifische Merkmale der rumänischen Dichtung.

„Die deutsche Dichtung ist gegenüber der französischen, ins­

besondere, und der rumänischen, im allgemeinen, so etwas wie — um bei einem bildlichen Ausdruck zu bleiben — das Wasser gegenüber dem Festland. Bleibt das Ufer aus Marmorstein, aus einfachem Stein oder Ton räumlich unverändert oder die Zeit verändert es durch nach Jahrhunderten wahrnehmbarer Ein­

wirkung, so fließt das Wasser ständig, stets ein anderes im gleichen Fluß, spüllt mit immer anderen Wellen das unveränderte Ufer, verwandelt sich selbst in sommerlicher Hitze in Dampf, bildet in den Lüften Wolken und wird im Winter zu durchsichtigem, hartem Eis. Das räumlich wandelbare Wasser findet nur in der

G e o r g e G uru: R i l k e u n d R u m ä n ie n 165 Zeit zu seinem Gleichgewicht. Seine letzte Essenz ist diese Fluidi- tät, die es wieder sichtbar macht, wenn es verloren zu sein schien.

Als Eisscholle, Welle oder Wolke, als unwandelbares Wesen. So wie in diesem Bild verhält sich die gesamte Dichtung Rilkes gegenüber der Dichtung Valerys.“19

An anderer Stelle wird diese typologische Dichotomie noch einmal evident: „Vergessen wir nicht, daß Valery (Monsieur Teste) ein sich selbst analysierendes Gehirn, während Rilke ein sich selbst quälendes Herz ist.“

(Ebda, S. 324)

Die Fragwürdigkeit dieser symbolgeladenen Ausführungen spürend, berichtet Pillat über seine Erfahrung beim Übersetzen des Cornets und über seinen Briefwechsel mit Rilke. Schließlich erinnert er an die Begeg­

nung Valerys und Rilkes in der Schweiz: vom Tode gezeichnet, „hielten sie in ihren Händen das Schicksal der europäischen Lyrik.“ (Ebda, S. 328)

Diesem theoretisch-kritischen Diskurs Ion Pillats waren einige Jahre lang zuvor weitere Veröffentlichungen aus Rilkes Werk sowohl in rumä­

nischer als auch in deutscher Sprache erschienen. In seiner Überblicks­

darstellung über neueste Tendenzen in der deutschen Lyrik erwähnt Oskar Walter Cisek auch Rilke, wobei er stets Analogien zur rumänischen Literatur herstellt, so etwa wenn Cisek — unter anderem — Nichifor Crainic mit Rilke vergleicht.20 Der deutsche Verlag Krafft & Drotleff aus Hermannstadt/Sibiu wartete indes mit einer Überraschung auf: 1930 brachte er den Band In memoriam Detlev von Liliencron, Rainer M aria Rilke, Hugo von Hofmannsthal von Marie von Mutis heraus.21 Die Bedeu­

tung dieses Bandes für Rumänien kann auch daran gemessen werden, daß er zweisprachig ist: sowohl die knappen Präsentationen der Dichter als auch die ausgewählten Gedichte werden auch in franzäsicher Über­

tragung gebracht. Somit wurde — ob bewußt oder nicht — sowohl den germano- als auch den frankophilen Rumänen Rechnung getragen. Tat­

sache ist jedoch, daß dieser Band leider eine recht einsame Blüte darstellt im rumäniendeutschen Literaturbetrieb. Vor allem für die Rilke-Rezep­

tion in Rumänien ist der Band wichtig, weil die Rilke-Gedichte darin den größten Raum einnehmen (etwa 50 von insgesamt 80 Seiten). Die Herausgeberin stand mit Rilke im Briefwechsel und übersetzte die Ge­

dichte im Bewußtsein ihrer vermittelnden Rolle: „Wenn ich heute ver­

suche, Rilkes Gedanken der französischen Sprache anzuvertrauen, dieser

< selbstbewußten und selbstsicheren Sprache>, wie er mir selber sagte, so tue ich es, um noch eine weitere Welt für den wandelnden deutschen Dichter zu gewinnen.“ (S. 24)

166 Ge o r g e G u r u : R i l k e u n d R u m ä n ie n

Ebenfalls in den Spalten einer rumäniendeutschen Publikation er­

schien der erste vergleichend angelegte Aufsatz von Adolf Heitmann Rainer M aria Rilke und Tudor Argbezi als religiöse Dichter, wobei vor allem die religiöse Thematik — wie später bei N. Crainic — als Berüh­

rungsbereich angesehen wurde. Als divergierend empfindet Heitmann die ketzerische Haltung bei Arghezi und die pantheistische Gebundenheit bei Rilke.

Ion Pillats Rilke-Aufsatz, der 1936 sogar in deutscher Fassung im Klingsor veröffentlicht werden sollte,23 erschien in einem für die Rezep­

tion der deutschen Literatur in Rumänien wichtigen Jahr: 1932 stand im Zeichen des 100. Todestags Goethes, der sowohl offiziell als auch publizistisch gebührende Beachtung fand. Im Goethe-Jahr gilt auch Rilke die Aufmerksamkeit der literarisch interessierten Öffentlichkeit: Eugen Jebeleanu veröffentlicht die von ihm übersetzten Gedichte Rilkes in einem beachteten Band,24 wobei kurz darauf S. Sanin Das Buch der Bilder ins Rumänische übertrug.25 Der Germanist Virgil Tempeanu hebt in einem beachtlichen Beitrag26 die Musikalität und den musikalischen Aufbau der Rilkeschen Werke hervor, die sich mit dem religiösen Emp­

finden des Dichters im Einklang befinde. Es folgte dann 1938 George Foneas Band mit Übertragungen aus Rilkes Gedichten, der in der Bu­

kowina erschien und somit auch in rumänischem Sprachgewand jenen Rilke-Kult in der Bukowina belegte, der bei den bedeutendsten Ver­

tretern des sogenannten „Bukowiner Dichterkreises“ stets zu spüren war.27 Aber auch in den anderen Gebieten Rumäniens war der Rilkesche Einschlag in rumäniendeutschen Lyrikprodukten vermerkt worden, so bei dem „Dichter-Maler“ Harry Zintz oder im Debütband Oskar Walter Ciseks Die andere Stimme.29 Im gleichen Jahr 1938 erscheinen auch die Briefe an einen jungen Dichter, die Maria Ana M. Muzicescu ins Rumä­

nische übersetzte.

Als unmittelbarer Ausdruck zeitbedingter Ausrichtungen ist im glei­

chen Jahr die Veröffentlichung der rumänischen Übersetzung der Ge­

schichten vom lieben Gott anzusehen, die der führende Ideologe des na­

tional-orthodoxen Gändirea-Kveises, der Dichter Nichifor Crainic, be­

sorgte. Am 1. Januar 1939 veröffentlichte Crainic den Aufsatz Rainer M aria Rilke — religiöser Dichter, den er einer neuen Ausgabe der Ge­

schichten vom lieben Gott als Vorwort voranstellte.29

Als „edler Vagabund“ flüchte Rilke nicht vor sich selbst, sondern aus der von Hermann von Keyserling postulierten Angst vor der Erstarrung, er flüchte vor all dem in der Welt, was nicht er selbst sein kann. Seine Sprachmagie schaffe ein „Labyrinth sprachlicher Schönheiten“, die nur

G e o r g e G u r u : R j l k e u n d R u m ä n ie n 167 ein deutscher Muttersprachler ästhetisch aufzuschließen vermöge, ebenso wie nur ein Rumäne den Geheimnissen der Musik Eminescus näher rük- ken könne. Schließlich schlägt Crainic das eigentliche Thema seiner Rilke- Ausführungen an: Der deutsche Dichter sei „ein großer europäischer Geist, der aus dem Gefängnis der atheistischen Zivilisation in die Freiheit des Geistes flüchtete, wo er nach Gott sucht wie nach dem Sinn seiner

G e o r g e G u r u : R j l k e u n d R u m ä n ie n 167 ein deutscher Muttersprachler ästhetisch aufzuschließen vermöge, ebenso wie nur ein Rumäne den Geheimnissen der Musik Eminescus näher rük- ken könne. Schließlich schlägt Crainic das eigentliche Thema seiner Rilke- Ausführungen an: Der deutsche Dichter sei „ein großer europäischer Geist, der aus dem Gefängnis der atheistischen Zivilisation in die Freiheit des Geistes flüchtete, wo er nach Gott sucht wie nach dem Sinn seiner