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ANDOR TARNAI Deutschland als Zentrum

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ANDOR TARNAI Deutschland als Zentrum

der internationalen lateinischen Dichtung im Späthumanismus

„Für das 16. und 17. Jahrhundert bleibt es die Aufgabe der Literaturhistoriker, die lateinische Literatur inihr Bild zuintegrieren und damit die Funktionen der deutschenDichtung besser zuverstehen. Das heißt ganz schlicht: die Neulatei- ner nicht ganz zu vergessen ... Ein zweites wäre das Problem,wie sich bei wirk- lichem EinbezugderlateinischenTraditiondas literaturgeschichtliche Gesamt- bildgestaltenwürde.“ Die zitierten Sätze sind einem Vortragdes Zürcher Ger- manisten Max Wehrli entnommen. Nachdem er unter anderem auf dieGenese der „nationalen Philologien“ - mitanderen Worten auf den Begriff der Natio- nalliteraturen -hingewiesen hatte,die sichseiner Meinung nachim Geiste Her- ders undder Romantik entwickelten, umrißer die Aufgaben derGermanisten wie folgt: „Nichtum deutsche Art undKunst zu zelebrieren, sondern um die vielfältigen Schicksale eines uns angehenden Sprach- und Literatursystems zu verfolgen.“1

1 Max Wehrli: Deutsch und Latein in der Barockliteratur, in: Akten des V. Internatio- nalen Germanisten-Kongresses Cambridge 1975. Hrsg. von Leonard Forster und Hans-Gert Roloff, Bd. 1, S. 134-149.

Wehrli betrachtete seinen auf der V. Internationalen Germanistentagung ge- haltenenVortrag nicht als ein„Stück Forschung“,sondern als eine„kleine Me- ditation“, die ihmGelegenheit bot, einigeForschungsprobleme und praktische Schwierigkeiten zu skizzieren: „Esfehlen die neuerenEditionen, Unabsehbares ist überhaupt nie gedruckt worden.Auch in den Anthologienkommendielatei- nischen Texte zu kurz.“

Andiesen Punkt der „kleinen Meditationen“ Wehrlis möchteichanknüpfen, wenn ich dieGelegenheit zueinembescheidenen - hinsichtlich ZeitundMate- rial sehr begrenzten- Versuch, dieRolle Deutschlands in der Geschichtederla- teinischenDichtung des Späthumanismus darzustellen, ergreife.

Man kann nämlich nichtdaran zweifeln,daß die historisch-kritischen Editio- nen der Neulateiner fehlen und die modernen Anthologien weder dem an der Literaturgeschichte interessierten Leser noch dem Wissenschaftler genügend Material zurOrientierungbzw. ForschungzurVerfügung stellen. Es gibt aber eineAnthologie aus den erstenbeiden Jahrzehnten des17. Jahrhunderts, die si- cherdieumfangreichsteimBereich der neulateinischen Poesie ist und diem.E.

weder entsprechend ihrem internationalenWert noch im Kontext„Latein und

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Deutsch“ gebührend gewürdigtwurde. Ich denke -wiedieKennerderEpoche schon herausgefundenhaben werden - an dieBände der Delitaepoetarum Ita- lorum, Gallorum, Betycorum und Germanorum, denen man späterdieDelitiae poetarum Hungarorum, Scotorum und Danorumhinzufügte.

Die erwähnten Bände, die insgesamt mehr als 17.000 Druckseiten ausma- chen, repräsentieren die lateinischeDichtung sieben europäischer Länder; sie umspannen ein ganzes Jahrhundert und wurden - wasim vorliegenden Zusam- menhangnochwichtigerist- in Deutschlandunmittelbar vor denprogramma- tischen Schriften eines Opitzveröffentlicht. Inden Delitiae haben wirerstens die gesuchte Materialsammlung, deren Inhalt allerdings weitgehend vom zeit- bedingtenUrteil der Redaktorenbestimmt ist, zweitens ein durch denpersönli- chen Geschmack determiniertes historisches Produkt des damaligen literari- schen Lebens. Drittens bietet der multinationale Inhalt festen Boden für den Vergleich der lateinischenDichtungen verschiedener Länder.

Zunächst aber möchte ich einige Worte über den Redaktor der wichtigsten Bände sagen. Janus Gruter, derdie Bücherreihe mit den Delitae poetarum Ita- lorum (1608) begann,sie nach einem Jahrmitden französischen (1609) und et- was spätermit den belgischen Dichtern (1614) fortsetzte, veröffentlichte seine Anthologien unter dem Pseudonym Ranutius Gherus; die sechs Bände derPoe~

tarum Germanorum wurden unter dem Monogramm A.F.G.G. herausgege- ben2.

2 Delitiae poetarum CC. Italorum, huius superiorisque aevi illustrium. Collectore Ra- nutio Ghero, Frankfurt a.M. 1608. - Delitiae C. poetarum Gallorum huius superio- risque aevi illustrium. Collectore Ranutio Ghero, Pars l(-3), s. 1. 1609. - Delitiae C.

poetarum Belgicorum, huius superiorisque aevi illustrium. Collectore Ranutio Ghero, Pars 1 (-3), Frankfurt a.M. 1614. - Delitiae poetarum Germanorum huius su- periorisque aevi illustrium. Pars l(-6). Collectore A. F. G. G., Frankfurt a.M. 1612.

- Delitiae poetarum Hungaricorum... exhibitae a Joh. Phil. Pareo, Frankfurt a.M.

1619. - Delitiae poetarum Scotorum huis aevi illustrium. Collectore Arturo Jon- stono, Amsterdami 1637. - Delitiae quorundum poetarum Danorum, Collectore Frid. Rostgaard, Lugduni Batavorum 1693, Bd. 1-2.

3 Leonard Forster: Janus Gruter’s English Years, Leiden - London 1967.

Der Humanist entstammte einer niederländischen Familie. Nach Studien in England und Leiden ging er nach Deutschland, wo er eine Professurfür Ge- schichte an der Heidelberger Universität innehatte und als Nachfolger von Schede Melissus als Bibliothekar der Palatinatätigwar. Seit den Forschungen Leonard Forsters ist mitTexten dokumentiert, daßerin seinen englischen Jah- ren muttersprachliche Gedichte schrieb und eines von ihnen an Janus Dousa richtete3. Georg Ellingers Meinungnach stand seine lateinische Dichtung „un- ter dem Banne“desJustusLipsius. Der deutsche Historiker der neulateinischen Lyrik sympathisierte nichtmit Lipsius: „Es istkein Zufall“, schrieb Ellinger,

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„daß Gruter nicht bloß die gesucht-altertümelnde Sprache seines Vorbildes übernimmt, sondern ihn auch in derNeigung zu mythologischem Prunk, zu stilistischenUbertreibungen, zum Pointierten und Ausgespitzten(!) nochzu übertreffen sucht.“ Was die von ihm redigierten Bände betrifft, so spricht er Gruter das Verdienstzu, durchseine Sammlertätigkeit einegroße Anzahl von Textender Neulateiner gerettet zuhaben, „die verschollenoderschwerauffind- bar sind“4. Die Ansichten Ellingers entsprechenaber - wieschon Alewyn be- merkt-denUrteilen, „diefür diemoderneDichtungetwa seit Goethe konstitu- tiv“ sind und einer Wertung, „die den Zugang nichtnurzur Dichtungder Re- naissance, sondernüberhaupt zu der überwiegendenZahl aller dichterischen Zeitalter verbaut, indem sie den Blick vondenfürsie konstitutiven Wertenab- lenkt.“5

4 Georg Ellinger: Geschichte der neulateinischen Literatur Deutschlands im sechzehn- ten Jahrhundert, Bd. III, 1, Berlin - Leipzig 1933, S. 303-309.

5 Richard Alewyn: Georg Ellinger: Geschichte der neulateinischen Literatur Deutsch- lands im 16. Jahrhundert (1929), in: Deutsche Barockforschung. Dokumentation ei- ner Epoche. Hrsg. von Richard Alewyn, Köln - Berlin 1965, S. 429.

6 Wilhelm Kühlmann: Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat. Entwicklung und Kritik des deutschen Späthumanismus in der Literatur des Barockzeitalters, Tübingen 1982.

7 Ioannes Matthaeus Toscanus: Carmina illustrium poetarum Italorum, Tom. 1 -2, Lu- tetiae 1576-1577.

Die Leistung Gruters und der historische WertseinerAnthologien muß also nachMaßstäben beurteilt werden, die Ellinger noch unbekannt waren. - Nach demStandder heutigenForschung ist es charakteristisch, wieder Redaktor ver- bittert über seineZeit klagt. SeinerMeinungnach herrscht an den Fürstenhöfen eine „iudicii sinisteritas“ gegenüber der lateinischen Poesie. Dortvergesse man, daß „Maro Maecenatem fecit, non MaecenasMaronem“. Ahnliche Vorwürfe erhebt er gegen die Jugend, die „frigore laborat ... ad literas humaniores“. In dem Widmungsbrief der Delitiae poetarum Germanorum äußert er sichindem Sinne, daß in seinemZeitalter „rarescit studiumpoetices“. Die Situation wird für ihn dadurch noch absurder, daß sein Jahrhundert -wieschondas vorherge- hende - den antiken in keinerHinsicht nachstehende Talente hervorgebracht hatte. Dieser pessimistischen Einstellung6 des Gelehrten kann aberdie Tatsache entgegengestelltwerden, daß die Veröffentlichungder Anthologien ein Buch- druckerinitiierte, auf dessen Drängen Gruter die Manuskripte der einzelnen Bände manchmalunter größten Anstrengungen und in höchster Eileverfertigen mußte.

DerUnternehmer, der offensichtlich einen beträchtlichen Gewinnaus dem Verkauf der Bücher zuerzielenhoffte, beabsichtigte ursprünglich, die beiden Bände der italienischen Anthologie von Ioannes Matthaeus Toscanus7 nach

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dreißig Jahrennoch einmalzuveröffentlichen, und wandte sich anGrutermit der Bitte, daß er das Material durch Zugabenergänze. Der Humanist bemerkte sofort, daß die Bände kaum ein Viertel der Dichter enthielten,die das damalige Italien hochschätzte. Durch die notwendigen Ergänzungen entstand ein 1400 Seiten umfassendes Buch. ZurVorgeschichte der dreiBände der französischen Dichter ist wiederum der Wunsch des Verlegers zu erwähnen, die Epigramma- tumflores des Leodegarius a Quercu neu herauszugeben8, weshalb er sich an Gruter mit der BitteumErgänzungenwandte. Bezüglich derDelitiaepoetarum Belgicorum sei kurz bemerkt, daß der Redaktor Gruter seine eigenen Gedichte sowie diederinDeutschland lebenden Niederländer in diesen drei Bänden her- ausgab. Damit suggerierte er, daß er sich seinesAusländertums bewußtwar, undeben dieses Bewußtsein machtverständlich, warum er diedeutsche neula- teinische Dichtung als Außenstehender betrachtete. Angesichts dieses Selbst- verständnisses erscheint die Frage motiviert, wie er eigentlich die deutschen Verhältnisse beurteilte und welche Vorstellungen er von seinem Publikum hatte, dem ermitseinerRedaktionstätigkeit Rechnung tragen wollte.

8 Leodegarius a Quercu: Flores epigrammatum ex optimis quibusque authoribus ex- cerpti, Lutetiae 1555-1560, Bd. 1-2.

9 Delitiae poetarum Belgicorum, P. II, Dedicatio.

Da Gruter ältere Anthologien um neuesMaterial bereicherte, kann man an der Aktualität der Gedichtekaumzweifeln,hebt er doch beiden flämischen und holländischen Dichtern selbst hervor, daß er Zeitgenossen einbezieht, deren Oeuvrenochnichtabgeschlossen ist, daß andere hingegen, dieman früher für

„poetarum principes“ hielt, nur mit einigen Epigrammen vertreten sind9. Diese Verfahrensweise betrifft auch diesechs Bände der deutschen Neulateiner, unter denen Celtismit knapp25Seiten gegenüberbeispielsweise Iohannes Posthius, Georgius Sabinus und NikolausReusner mit mehrals 200 Seitenvertreten ist.

Noch klarertritt die VorliebedesRedaktorsfür die Späthumanistenin den Bän- dender französischen und der belgischen Dichter hervor, in die er alle Gedichte von Du Bellay aufnahm, aus dem großen Haufen „Mischfutter“ (farrago) des RudolphusAgricola jedoch kaumeinige „indenKranz der Musen“ zu flechten wagte.

Die dendeutschen Neulateinern undihrem Publikumvon Gruter zugestan- denePositionkannmaneinerseits im Vergleich mit anderen Dichtungensehen, andererseits lassen sichdie deutschenZustände in ihrerhistorischen Entwick- lung betrachten. Wir wollenhier die Probleme in gebührender Kürze von bei- den Seitenangehen. Ein Unterscheidungsmerkmal berührt Gruter schon in dem Widmungsbriefandie italienischen Dichter mit einem der damaligen tabuisier- ten Thematik entsprechenden Vorbehaltbei der Inhaltsangabe der veröffent- lichten Gedichte: Er will Historien aus alter oder moderner Zeit sowie Ver- wandtes anderer Gattungen, nämlich Panegyrica, Epitaphia und Epithalamia

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der Fürstenund derGelehrtenveröffentlichen, und erstnach der den Poetiken und der gesellschaftlichen Hierarchie entsprechenden Klassifizierung der dich- terischen Gegenstände beginnt er über die Liebesgedichte und die Satirenzu sprechen, die er hierunddain seine Sammlung aufgenommen habe, weil ihre Weglassung mit der Abschaffung des Unterschiedes „zwischen Frühlingund Winter“ identischwäre und weil sie zu allen Zeiten und in allen Ländernden vornehmsten Geistern erlaubt waren. Er versäumt nicht, dem noch hinzuzufü- gen, daß dergrößte Teil der „amatoria“ dem Toscanus anzulasten sei. Die lange Argumentationskette kehrt in gekürzterForm bei der Charakterisierung der Franzosen wieder, insofernsichdieseweniger um dieLiebe als vielmehr umdie Tugendkümmern. Es ist dieser Umstand, der es Gruterermöglicht, seinen Le- sernauch „integra corpora“ einigerDichter mitzuteilen.

Wenn wirnun im folgenden auf die Beziehungenzwischen der lateinischen undder vulgärsprachlichen Dichtung zu sprechen kommen,soläßtsich schon beimflüchtigen Durchblättern der italienischen, französischen und belgischen Bände feststellen, wieeng der Kontakt der Latinitätmitder „linguavernacula“ war. Die Poeten der betreffenden Länder waren sehr oft zweisprachig und machten von beidenSprachen unterschiedslosGebrauch. Es kommt nichtsel- ten vor, daß die Dichter vulgärsprachlicheGedichteins Lateinische übersetzen bzw. zu einerlateinischen Version umarbeiten oder die Veröffentlichung vul- gärsprachiger Bücherin lateinischenGedichten feiern. Nichtwenigerbezeich- nendist es, daß die Produkte der humanistischenphilologischenLiteraturdie nämliche Anerkennung fanden. Wenn mannoch berücksichtigt, daß Gruter seine Professur in Wittenbergaufgab, um die „formula concordiae“nichtunter- schreiben zu müssen10, wird klar, daßer sich inseinen Anthologienüber kon- fessionelle Grenzen hinwegsetzte. Er betontin einem seiner Widmungsbriefe, daß die Bände mit Zustimmung der Pariser katholischen Theologen erscheinen.

Bedenkt man schließlich, wiesichdasfranzösischeliterarischeLeben um Ron- sard, das belgische um Justus Lipsius,Grotius und diebeidenDousasgestaltete undwiedie Humanisten verschiedener Länder inengeVerbindung miteinander traten, sind die wichtigsten Züge der damaligen Gelehrtenrepublik und ihresLi- teraturbegriffs, die die dichterische Tätigkeit der Späthumanistenbestimmten, umrissen.

10 Georg Ellinger (s. Anm. 4), 2, S. 411.

Nach der Durchsicht derinsechs Bänden aufmehrals7800Seiten dargebote- nen Produktion deutscherDichter ergibtsichein Bild, das vonder italienischen, französischenundbelgischenPoesiein wesentlichen Zügen abweicht.Die deut- schen Musensöhnesprechen viel wenigerüber die Liebe, und es istzu vermu- ten, daß Grutereben die Zustände in seiner Wahlheimatdazu veranlaßten, die Legitimität der Liebesdichtungzu erwägen. Diedeutschen Neulateiner hatten

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bis zum Ende des 16.Jahrhunderts keine Persönlichkeitin ihren Reihen, die auf dem gesamten protestantischenTerritorium als unumstrittene Autorität in der Poesie gegolten hätte. Die DeutschenbliebenbiszumAuftreten von Petrus Lo- tichius Secundus, Paul Schede Melissusund Iohannes Posthius denwestlichen Nachbarnsogut wieunbekannt. Sie übersetztenkaumeinige Gedichte ausihrer Muttersprache. Kurz gesagt - sie standen auf einer anderen, niedrigeren Stufe der literarischenEntwicklung. Man wird kaum fehlgehen, wenn man behaup- tet, daß NathanChytraeus der einzige ist,der die dreiPeter, einen Italienerso- wieden Franzosen Ronsard undden Deutschen Lotichiusin einem Atemzug erwähnt.

Während die ältere Generation mit biblischen, religiösen und moralischen Meditationenhervortritt, sind die späterenDichterinstärkerem Maße frei vom reformatorischen Enthusiasmus und demausländischen Einfluß -inerster Linie dem der Franzosen undBelgier - gegenüber viel aufgeschlossener. Von diesem Zeitpunkt an beginnen auch die Ausländer die deutschen Neulateiner zur Kenntnis zunehmen. Mit anderen Worten - die deutsche neulateinische Dich- tung nimmt mit der neuen -auchvon Ellinger herausgestelltenWende- den ihr gebührendenPlatz ein und wird denLiteraturender westlichen Nachbarländer ebenbürtig.

Um Mißverständnisse zu vermeiden, muß ich an diesem Punkt bemerken, daßdieVulgärsprachedieFestung der Wissenschaften noch nicht eroberthatte, sonderndas Latein weiterhindieRolleeinesinternationalenKommunikations- mittels spielte, und erst wenn jemand Latein beherrschte, konnte ersich seiner eigenen und der öffentlichen Meinung nach zum Gelehrtenstanderechnen. Das ist alles seitgeraumerZeitbekannt. Viel wichtiger istindessen, daß man inden Schulen dielateinischePoesieweiterhinhochschätzteundsiebiszum Ende des 18. Jahrhundertsfür einen Teildes gebildeten Publikums herausgab.Man kann des weiteren aus derTatsache derZweisprachigkeitdermeisten Autoren des Barockzeitalters schließen, daß das Latein auchim Laufedes 17. Jahrhunderts diedeutsche Dichtungbeeinflußte. Das hängt damit zusammen, daß Opitzens Versreform ein spätes Erzeugnis der europäischen Renaissancepoesie ist. Die deutschsprachige Poesie und Poetikvorund nach Opitz beeinflußte in ähnli- chem Maße die ostmitteleuropäischen Literaturen. Es istz.B. wahrscheinlich, daß dieGrammaticavonJohannes Clajus (1578) unddas Werk Vnderriclotder HochTeutschen Spraach vonAlbert Ohlinger mit seinen Prosodien ungarisch- sprachige Versuche in den ersten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts hervor- riefen11.

11 Corpus Grammaticorum linguae Hungaricae, coll. Franciscus Toldy, Pestini 1856, 115-290; Régi Magyar költök Tára, XVII. Jh., Bd. 2, 6; Christian Wagenknecht:

Weckerlin und Opitz, München 1971.

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Man kann nicht behaupten,daßJanusGruter alleFormen, die in der theore- tischen Literatur der damaligen theoretischen Poetik behandeltwurden, in seine Anthologien aufnahm. Der Herborner Philosoph Johann Heinrich Alstedver- öffentlichte1620 seinBuch Septem artesliberalesals drittenBandseinerEnzy- klopädie12. Seinen Lehren zufolgesind „rhythmus“ und „carmen“ die Instru- mente der Poesie. DieDefinitiondesRhythmus lautet:„oratio numerosa,certa syllabarumharmoniaconstans“. In diesem Teil der Poetik behandelt er denge- reimten Hexameter, aber auch Formen, indenen sichdie letzte Silbe der einen Zeile auf das erste Wort der nachfolgenden reimt,z.B.:

12 Johannes Henricus Alstedius: Septem artes liberales quae constituunt tertium Ency- clopaediae philosophicae tomum, Herbornae 1620, 713-776.

Solet precari ecclesia Dei Ei Deus Pater, sed si colet, Volet^ adesse; pater hic spei Rei afflictae deesse non solet.

Diese Rhythmen heißen bei ihm „cancellati“. Eine andere Art bilden die

„rhytmi alternati“ (abab), wiedereine andere die „rhytmi mixti“,wo die sich reimenden Wörter in Paarreimen und in alternierendenReimen plaziert sind.

DerVerfasser bemerkt dazu,daß sie beiden Deutschen, Franzosen und anderen Völkern häufig vorkommen.

Es fehlen Beispiele für das Figurengedicht undeineReiheanderergekünstel- ter dichterischer Formen, die damals verbreitet waren undinder klassifizieren- den Beschreibungvom Verfasser gewürdigtwurden. Zuihnen gehörenaußer dem Figurengedicht der „cubus“, das„alphabetum poeticum“, d.h.eine Form, in der der Poet das ganze Alphabet mitden Anfangsbuchstaben der aufeinan- derfolgenden Zeilen wiedergibtund damit auch die Anzahl der Zeilen seines Gedichtes festlegt, ferner die Formen, die von rechts und linksgelesen den glei- chen Sinn ergeben,sowie Zeilen, in denen dieeinzelnen Wörter ohne Verderb- nis des Inhalts und des Metrums vertauscht werdenkönnen, des weiterenan- dere Spielereien, diealsdie extremsten Formen des Manierismusgewertet wer- den können. Sie heißen bei Alsted „lusus“ und sollendie magische Kraft der Wörter ausdrücken. Die geometrische Form einesQuadrats z.B. bezeichnetdie

„constantia“ des Adressaten, die in Blumenform zusammengestellten Zeilen symbolisieren die Blumen der Gratulation, die mit einem Kelch die religiöse Thematik, diemit einer Fahnediedes Ruhmsu.ä. Dies alles solldie Worte des Gedichtes dem Leserauch visuell nahebringen. Gruterläßt diese Charakteri- stika des Späthumanismus außer acht: DieSpielereien, dieer noch duldet, sind das Anagramm und das Chronostichon. Als er die Poemata derSpäthumanisten in seinen Bänden zusammenstellt, läßt er mithin eine Richtungder zeitgenössi- schen lateinischen Lyrik unberücksichtigt - natürlich gerade die Richtung, die

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seiner literarischenWertung nicht entsprach. Er bevorzugte jeneFormen, die dem Konsens der Gelehrtenrepublik nicht entgegenstanden, und verwies die von Alsted verzeichneten „lusus“ in diePeripherie.

Die Schüler Alsteds waren natürlich nicht sozurückhaltend. Einervon ihnen, der seinem Meisternach Siebenbürgen folgte, Philipp LudwigPiscator, schrieb für diedortigenLateinschuleneine Poetik, die zur Verbreitungderspäthumani- stischen „lusus“ beigetragen hat.

Die Vorliebe Alsteds für die esoterischen Richtungen kann man damit be- gründen, daß erinseinenjungenJahren vier Schriften veröffentlichte, die sich mit der „großen Kunst“ des Raymundus Lullus befassen, undauchTexte von Lullianern herausgab.Obwohl der Lullismusin seiner Enzyklopädie von 1630 nur noch eine bescheideneRollespielt, zog den Herborner Philosophen dessen neuplatonische Komponente nach wievor an13. Es ist hier meines Erachtens nicht nötig, ausführlich über den Gedanken der durchgängigenHarmoniezwi- schen den Dingen derWelt und die Wirkung dieses Gedankens auf Alsted zu sprechen. Für Literaturhistoriker sind aber unbedingt die Hieroglyphik und Emblematik zu nennen. Die Geschöpfe sind nämlich für Alsted „Hierogly- phen, Schriftzeichen Gottes“, und der Philosoph betont die Verwandtschaft zwischenHieroglyphenund Buchstaben.

13 Paolo Rossi: Clavis universalis, Milano - Napoli 1960; Cesare Vasoli: L’enciclope- dismo del Seicento, Napoli 1978. Walter Michel: Der Herborner Philosoph Johann Heinrich Alsted und die Tradition, Frankfurt a.M. 1969.

14 Lusus poetici excellentium aliquot ingeniorum, mirifice habentes Neminem, Nihil, Aliquid, Omnia ... Collectore et editore Alberto Molnar Ungaro, Hanoviae 1614.

Zum Enzyklopädismus und hinsichtlich der Vergleiche mit der von Janus Gruter bevorzugtenneulateinischen Poesie ist zu bemerken, daß esnoch zu be- weisengilt, daßalleVertreter desvon Alsted systematisierten „lusus“Anhänger der neuplatonischenHarmonie waren oder ob das Spielmit den Wörtern und Buchstaben nuralseine Modeerscheinung anzusehen ist, die auch bei Dichtern zum Tragen kommt,die sonst keine Anhänger der neuplatonischen Harmonie waren. Ich bin der Meinung, daß das von Gruter vertretene literarische Urteil und dieinder Alstedschen Poetik beschriebenen Formendurchausin der dich- terischen Praxis nebeneinander existieren konnten, womit aber nicht behauptet werden soll, daßdie„lusus poetici“ nicht zu den Randerscheinungen der dichte- rischen Praxis gehören.

Als Beispiel fürdieKoexistenz der beiden Richtungen erwähne ich ein 1614 in Hanau von einem in Deutschland lebenden zweisprachigen ungarischen Dichter, Albert Szenci Molnár, veröffentlichtes Buch mit dem TitelLususpoe- tici. DerkaiserlicheRatJohann Matthäus WackervonWackenfels, der Altdor- fer Proffesor Konrad Rittershausen und der Nürnberger JuristGeorg Rem stan- denbei diesem Buch Pate14. Am Anfang der Sammlung stehtdas auchinden De-

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litiae poetarum Germanorum vorhandene Poem (III 798-803) des Ulrich von Hutten „Nemo loquitur“, diesem folgen die Poeme „Lusus de nemine“ von Theodorus Marcilius, das carmen „Denemine“ des Zürchers Johannes Huldry- chus Grobus, das „Nihil“ des Franzosen Johannes Passeratus und ein als Ant- wort daraufgedachtes Gedicht vonChristopherus Colerus, das der Verfasser dem Wacker von Wackenfels widmet. Die interessantesten Belege für die Ko- existenz der poetischen Richtungen sind zwei Gedichte, die der ungarische Herausgeber des Bandes selbst schrieb: ein an Georg Rem adressiertes Epi- gramm,indemdie Anfangsbuchstaben der Wörter der ersten und die Endbuch- stabender letzten Wörter einerjeden Zeile das lateinische OMNIA ergeben.

Auch Rem schrieb gleiche Gedichte an Molnár, der wiederum mit einem Epi- gramm antwortete, indem „omnia“ sowie „Remus“ - letzteres hinter einem fe- stenweiteren „omnia“ -inallensechsKasusvorkommen.Das andere Poemmit einer ähnlichen Formkünstelei istGeorg Rem gewidmet: „Omnis reddo meo qui omnia praebuit Remo“. Es besteht auseinem einzigenHexameter, dessen waagerecht und senkrechtgesetzte Buchstaben ein Quadrat so ausfüllen, daß sichderText von jedem in der Diagonale befindlichen Buchstaben O aus sowie nachoben undunten gelesen gleichermaßen ergibt.

Das Aufkommen der deutschen Gelehrtendichtung bedeutet nun aber kei- neswegs, daß die lateinischeDichtung danachauf einen Schlag verschwunden wäre. Seit der Herausgabe des Bibliographischen Handbuchs Gerhard Dünn- hauptsmit den Bibliographien von deutschenAutorendes17.Jahrhunderts ist esoffenkundig, daßnamhafte Dichterund Schriftsteller des Barock „sich vor- nehmlich derlateinischenSprachebedienten“15, und diese Tatsache allein läßt darauf schließen, daß es während diesesJahrhunderts eine deutsch-lateinische Zweisprachigkeitgab. Wenn die Bändeder Delitiae diedeutschsprachigeDich- tung im obendargelegten Sinne förderten bzw. eine Vorstufe für siebildeten, darf man mit gleichem Recht behaupten, daß dieselben auch der lateinischen Poesie zugute kamen. In dieser Hinsicht ist das Aerariumpoeticum des Mel- chior Weinrich, einlangeZeit unbeachtetes Buch, exemplarisch16. Eserschließt den Schülern lateinische Phrasen, „nomina poetica tam propria quam appella- tiva“, aus den alten und modernenAutoren-unter letzteren inerster Linie von Friedrich Taubmann, dem „vorzüglichsten Dichter desJahrhunderts“.Das al- phabetisch geordnete Buch wurde in seinen späteren AuflagenvonJoseph Clau- der durch viele aus den Delitiae stammende Lesefrüchte bereichert (1677). So

15 Gerhard Dünnhaupt: Bibliographisches Handbuch der Barock-Literatur, Erster Teil, S. XIV.

16 M. Melchioris Weinrichii Aerarium poeticum ... Nunc primum reiterata editione in- finitis in locis emendatum, tersius et Italorum, Belgarum, Gallorum, Germanorum, Scotorum, Hungarorum, quos Janus Gruterus utplurimum collegit ... Francofurti 1677.

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hat man sichan den LateinschulenundUniversitätenimInteresseder Latinität des Gruterschen Werkes bedient.

Wasendlichdie Wechselwirkung des Lateins und des Deutschen im17. Jahr- hundert betrifft, sei hiereinelateinischeVariante des Gryphius’schen Papinia- nus-Dramas erwähnt, das in der ehemals oberungarischen StadtEperjes (Pre- sov)vonden Schülern des Collegiums der evangelischen Stände 1669 aufgeführt wurde17. Ein halbes Jahrhundert später veröffentlichte der inAltdorf studie- rende David Czvittinger1711 das erste Schriftstellerlexikon, das alleAutoren des alten Regnum Hungariae enthält. Der Titel Specimen Hungariaeliteratae spiegelt dendes Harsdörfferschen Buches wider: Specimenphilologiae Germa- nicae (1646). Diese und ähnliche Ubernahmen deutscher undlateinischer Texte der deutschen Barockliteratur beweisen, daß Deutschland mit seiner literari- schen Zweisprachigkeit seine zentrale Stellunginder Pflege derLatinität, von den Ländern Ostmitteleuropasher betrachtet, dasganze 17. Jahrhundert hin- durchbehaupten konnte. Eshandeltsich hier um eine Situation, die man in der gesamteuropäischen Literaturgeschichte berücksichtigen sollte.

17 PAPINIANUS TETRAIT20S, hoc est vir magnanimus, justus, constans rectique pertinax in theatrum productus ..., Leutschoviae 1669, (Programm).

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