Y. ANWENDUNG-TIN PHYSIKALISCHEE UND CHEMISCHER FORTSCHRITTE
II. DIE ARBEIT UND DIE GROSS-INDUSTRIE
Wenn man die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zustände der Gegenwart mit jenen des verflossenen Jalirhundertes vergleicht, so gewinnt man sehr bald die Ueberzeugung, dass sich die charakteristischen Unterschiede dieser Zeitepoehen auf die beiden Principien der Civilisation: B e h e r r -s c h u n g d e r N a t u r und -staat-sbürgerliche F r e i h e i t , zurückführen la-s-sen*).
Aus dem e r s t e n derselben sahen wir jene grossartigen Erfolge für die Volkswirtschaft erstehen, welche in dem vorangehenden Abschnitte geschil-dert sind; wir sahen, dass durch die Fortschritte der Naturwissenschaften unsere Productionsverhältnisse in ganz neue Bahnen gelenkt wurden und dadurch die gesammte Lehens- und Denkungsweise des Menschen eine Aen-derung erfuhr.
Aus dem z w e i t e n Principe, der Freiheit im lteclitsstaate, entwickelten sich in der nämlichen Periode die anderen mächtigen Factoren, deren Mitwirkung bei dem Civilisationswerke der Menschheit Schritt für Schritt verfolgt werden kann; es entstand die freie A r b e i t , das grosse C a p i t a l , der C r e d i t .
Die Arbeit hat allerdings in der Welt ihren Anfang genommen, als der Mensch nach dem Worte des Herrn angewiesen wurde, sich sein „Brot im Schweisse seines Angesichtes" zu verdienen; da war sie aber eine Geissei und Strafe. Die Arbeit war unwürdig, so lange der Mensch die Kräfte seines Nächsten der seelenlosen Natur gleich ausbeutete und verschacherte; sie hat ihre culturgeschichtliclie Bedeutung, ihre hohe Würde erst erhalten, als die Volkswirtschaft in ihr das Mittel erkannte, um zu dem Endziele unserer ganzen Entwicklung zu gelangen. So fehlte der Arbeiterstand in der grauen Vorzeit, weil Jeder sich selbst mit den nötigen Gütern versehen musste;
er fehlte im classischen Altertliume, weil der Sklave ein willenloses "Werkzeug, eine Maschine in den Händen des Unterjochers wurde; er fehlte im Mittel-alter und bis auf unsere Tage, weil Leibeigenschaft und Feudalismus die Arbeit als produetive Kraft nicht zur Geltung gelangen Hessen. Erst in der modernen Entwicklung des Staates kommt die richtige Organisation der Arbeit, der Quelle des menschlichen Wohlstandes und Glückes, zum
Durch*) Wir erlauben uns, auf «leu A u s g a n g s p u n k t diesel· Einleitung (Seile 8 u. 13 II.) hier /.u v e r -weisen.
I A r b e i t u n d Grossindustrie. 167 bruche. Aus diesem letzten Stadium dürfen wir nur die n e u e s t e Phase in den Kreis unserer Betrachtung ziehen, denn nur für s i e konnten sich überhaupt Merkmale auf der Weltausstellung finden.
In der That glauben wir, nicht bloss in jener beschränkten Gruppe, welche man für dieses Gebiet speciell geschaffen hatte — in der social-öko-nomischen Abtheilung; deren Inhalt an anderer Stelle des. Berichtes aus-führlich behandelt wurde — sondern in allen Räumen des grossen Tempels am Marsfelde viel Materiale erblickt zu haben, um nach demselben die epoche-machenden Reformen der Gegenwart zu beurtheilen. Es würde, wie uns scheint, eine sehr oberflächliche Beobachtung bekunden , wenn man hinweg-leugnen wollte, dass zahlreiche Erfahrungsbeweise vorliegen, und neuerdings (, auf der Ausstellung zu finden waren, um den s o c i a l i s t i s c h e n Weg zur y-Lösung der Arbeiterfrage als irrig, den rein ö k o n o m i s c h e n Weg dagegen als richtig zu erkennen. Die künstliche Umgestaltung der menschlichen Gesellschaft, die gewaltthätige Nivellirung der Standesunterschiede, wie man sie schon seit Decennien mit mehr oder weniger Geschick, aus wahrer Ueber-zeugung· oder aus verwerflichen Motiven von so vielen Seiten als das Mittel bezeichnet hat, um der Arbeit den ihr gebührenden hohen Rang zu verschaffen, kann niemals einen dauernden Erfolg bringen und von Versuchen dieser
Art hat auch die Pariser Universal-Ausstellung keinen einzigen zu illustriren vermocht. Dagegen hat sie tausende von Belegen dafür enthalten, dass die Kraft der wirthschaf'tlichen Elemente selbst, wenn ihr nur nicht absichtlich Widerstand geleistet wird, ausreicht, um die s o c i a l e F r a g e zu l ö s e n .
Bekanntlich ist es ein doppeltes Ziel, welches angestrebt wird: einer-seits die Befreiung des Arbeiters von der Herrschaft des Unternehmers, andererseits die politische Gleichberechtigung des sogenannten „vierten Standes" mit den übrigen Classen der Bevölkerung. Zugegeben, dass die Uebelstände, welche in diesen Forderungen ausgedrückt sind,, in der heutigen Organisation der menschlichen Gesellschaft wirklich bestehen, so bedarf es zu deren Behebung doch keineswegs jener positiven Massregeln, welche so häufig auf die Fahne der socialistischen R e f o r m e n geschrieben werden, und eigentlich eine socialistische R e v o l u t i o n bezwecken; denn der natur-gemässe Zustand stellt sich durch die freie Einwirkung wirthschaftlicher Factoren, welche auch den Weg zur staatlichen Geltung des Arbeiters ebnen von selbst her.
In Folge w i r t h s c h a f t l i c h e r Fortschritte wird die Arbeitsleistung \ im Grossen und Ganzen beständig erhöht, indem sicli die physischen und i;
intellectuellen Hebel der Arbeit unablässig vermehren, die Organisation der
Arbeit vollständiger und der Ersatz der Handarbeit durch die Maschine allgemeiner wird. In Folge w i r t Ii sc h a f t l i e h er Fortsehritte erhält der Arbeiter in einer oder der anderen Form den ihm gebührenden Antlieil an den Resultaten seiner Leistung, und zwar in einem Masse, welches lim so grösser wird, je höher sich das ganze Staatsleben entwickelt; die Regulirung dieses Verhältnisses geht immer mehr von den Händen de3 Capitalisten in jene
! des Arbeiters über; die „Ausbeutung durch das Capital" wird also immer mehr
y illusorisch. In Folge wi r t l i s ch af11 i c Ii er Fortschritte endlich entstehen und vergrössern sich die neuen Gebilde, durch deren Vermittlung der Arbeiter seine Bürgerrechte zur Geltung bringen kann: Association und Grossindnstrie;
der Arbeiter wird Mitglied in jenen, er wird Vollbürger in dieser; hier und dort vermag er seinem Stande denjenigen Wirkungskreis thatsächiich zu ver-schaffen, welcher demselben gebührt. .
Durch die eben genannten und durch zahlreiche mitwirkende Ursachen, welche in der allgemeinen Culturentwicklung liegen, worden die Lebensbe-dingungen des Arbeiters in jeder Richtung namhaft ver-bessert und ohne gewaltthätige Eingriffe vollzieht sich durch freiheitliche Wirthschaftsreformen
von selbst die Lösung der Arbeiterfrage.
Wir werden versuchen, im Anschlüsse an die Ergebnisse der Pariser Weltausstellung die hier aufgestellten Ansichten zu rechtfertigen.
I. ERHÖHUNG DER KÖRPERLICHEN UND GEISTIGEN ARBEITSKRAFT.
Alte und bekannte Erfahrungssätze, an welche wir hier anknüpfen dürfen, sagen, dass der Erfolg der menschlichen Arbeit von der physischen und geistigen F ä h i g k e i t des Arbeiters, von seiner A r b e i t s l u s t und von der rationellen O r d n u n g der Arbeit, Theilnng und Vereinigung derselben, bedingt wird. Ueber diese Voraussetzungen heute noch streiten oder dafür lange Beweise führen zu wollen, wird nicht leicht Jemand einfallen; wir gehen von denselben, als einem anerkannten Axiome aus. Nicht minder wird von allen Seiten zugegeben, dass sich der Lohn der Arbeit wesentlich durch dieselben Momente bestimmt, wie der Marktpreis einer W a a r e , und dass man überhaupt nur dort bessere Löhne auf die Dauer erhalten wird, wo die natürlichen Ursachen eines höheren Preises eintreten. Vorübergehend kann allerdings eine besonders zahlreiche Arbeiterbevölkerung, welche in einem Lande mit wenig Capital zusammentrifft, eine Erniedrigung der Löhne, und die entgegengesetzten Ereignisse können eine Erhöhung derselben her-vorrufen. Das endliche und haltbare höchste Niveau der Löhne richtet
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sich jedoch nach dem W e r t h c, welchen die Arbeit für das Unternehmen, beziehungsweise für die ganze Volkswivthschaft hat; je mehr der Capitalist durch den Arbeiter zu produciren vermag, desto besser kann und wird er regelmässig denselben bezahlen; derjenige Arbeiterstand, welcher am leistungs-fähigsten ist, wird im Grossen und Ganzen die besten Löhne erhalten und unter den Arbeitern einer Kategorie werden wieder diejenigen Individuen besser entlohnt, welche relativ mehr leisten, als ihre Concurrenten.
Es ist leicht einzusehen, dass sich diese Verhältnisse mit der N o t w e n -digkeit eines. Naturgesetzes immmer in's Gleichgewicht stellen, wenn sie auch zeitweise in's Schwanken gerathen. Der Unternehmer, welcher seinen Arbeitern einen ü b e r dem Werthe der Arbeit liegenden Lohn bezahlen wollte, würde den mitwerbenden Unternehmern gegenüber bald zu Grunde geben, weil sich die Gestehungskosten seiner Erzeugnisse höher stellen würden, als die durchschnittlichen Marktpreise. Umgekehrt wird der Arbeiter, welchem der Capitalist nicht so viel bezahlt, als seine Leistung wirtschaft-lich verdient, Mittel und Wege finden, um sich einen dem Arbeitswerte ent-sprechenden Lohn zu verschaffen, und dies um so eher, je vollständiger die Concurrenz entwickelt, die Mobilisirung der Arbeiter-Bevölkerung ermöglicht, und je vollständiger deren A n t e i l an der Grossindustrie schon durchge-führt ist; Bedingungen, auf welche wir weiter unten noch zu sprechen kommen.
Zwangslagen, welche von einer oder der anderen Seite geschaffen werden, müssen also durch die Concurrenz von selbst gebrochen werden.
Da die Frage des A r b e i t s l o h n e s als Ausgangspunkt der socialisti-schcn Phrase gilt: der Arbeiter sei Sclave des Capitals, und da wir eben gesehen haben, dass der günstige Stand des Lohnes endgiltig von dem Werthe der Arbeit abhängt, so muss jede Bestrebung, welche dabin zielt, diesen Letzteren zu steigern, auch den Einfluss nehmen, dass die Löhne erhöht werden können, also naeli dieser e i n e n Richtung wenigstens, welche wir vor-läufig ausschliesslich betrachten, die Lage der Arbeiter einer Verbesserung zugeführt wird.
Wahrhaft civilisatorische Erfolge lassen sich demnach auf dem liier er-örterten Gebiete nur dann erwarten, wenn man zu den letzten Ursachen, 1
nämlich zur Steigerung des Arbeitswerthcs greift. Nur die consequent durch-geführte Erhöbung der Leistungsfähigkeit und die richtige Organisation der Arbeit vermögen die ganze Arbeiterclasse materiell günstiger zu stellen.
Was diese Momente betrifft, so verhindert allerdings der innige Dua-lismus, welcher zwischen Geist und Körper besteht, die Scheidung des in-tellectuellen und des physischen Arbeitswertlies bei ganzen Nationen
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tisch strenge durchzuführen; dennoch vermag man dies bei Individuen und einzelnen Gesell schaftsclassen. Wir werden zunächst jene Erhöhung der Leistungsfähigkeit betrachten, welche vorzugsweise materiellen Bedingungen zuzuschreiben ist, um uns dann zu den übrigen zu wenden.
* Der Mensch kann seine eigene natürliche Constitution weitaus weniger beeinflussen, als jene der anderen organischen Wesen. In der Pflanzen- und Thierwelt modificirt und variirt er die Arten und Individuen, wie wir an einer früheren Stelle schon gesehen haben, viel willkürlicher, als in seiner eigenen Familie. Für das Aufsteigen des Menschen zu einer vollkommeneren körper-lichen Beschaffenheit ist in der historischen Zeit kein Merkmal zu finden.
Dennoch gibt es Mittel, um selbst in diesem Sinne die Arbeitsleistung zu erhöhen.
So eng durchschnittlich die Grenzen der Entwicklung des Menschen sind, so kann doch sehr viel dazu heigetragen werden, dass das einzelne In-dividuum nicht unter diesem möglichen Durchschnitte der physischen Kraft bleibt, sondern denselben erreicht oder überschreitet.' Berücksichtigen wir einstweilen noch nicht, was sich von der Verlängerung der Lebensdauer, von Verminderung der Opfer der Industrie.und von der Hebung des Gesundheits-standes sagen liesse, weil es nur im entfernteren Zusammenhange mit der hier in's Auge gefassten Frage steht, und bleiben wir bei demjenigen, was unmit-telbar die körperliche Arbeitskraft des Individuums beeinflusst, bei der E r n ä h r u n g . Keine Zeitperiode hat hinsichtlich dieser so rasche Fort-schritte gemacht, als diejenige, welcher die gegenwärtige Generation an-gehört.
Die Erkenntniss, dass die Arbeit, so wenig wir ihrer Würde nahetreten wollen, von der materiellen Seite angesehen, nichts anderes als ein Umsatz von natürlichen Kräften ist, und um so ausgiebiger sein kann, je mehr dem Arbeiter zur Reproduction geboten wird, beginnt endlich durchzugreifen;
ist diese Erkenntniss einmal zum Gemeingute des ganzen Arbeiterstandes geworden, dann wird sie den praktischen Nutzen, dessen erste Keime man bereits beobachten kann, im grössten Masse gewähren. Schon vor Jahren wurde nachgewiesen, dass die nationenweise Verschiedenheit der Arbeits-kraft mit der volksthümlichen Lehensweise innig zusammenhängt, und dass der englische Arbeiter im Vergleiche mit dem französischen und deutschen viel leistungsfähiger ist, weil er die jeweilig ausgegebene Muskelkraft durch richtig gewählte Nahrungsmittel rasch zu ersetzen versteht. Nicht minder bekannt ist, dass die Untauglichkeit der Bevölkerung ganzer Landstriche fast ausscliliesseiid auf die durch Gewohnheit oder natürliche Verhältnisse begrün-dete irrationelle Ernährung zurückgeführt werden kann. J a , man ging so
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weit, durch Versuche an einzelnen Arbeitern zu constatiren, dass durch eine, längere Zeit fortgesetzte Wahl besserer Kost der Arbeitswert des Mensehen beträchtlich gehoben werden kann*).
Die Art und Weise nun, wie man bemüht ist, diese Thatsachen streng wissenschaftlich zu begründen und in die Volkswirtschaft praktisch einzufüh-ren, ist von so unermesslicher Tragweite, dass derjenige, der sie beachtet und ausnützt, der nationalen Arbeit einen viel grösseren Dienst erweist, als der eifrigste Socialist, Um zu erfahren, wie die physische Leistungsfähigkeit des Arbeiters mit dem geringsten Aufwände von Mitteln erhalten und erhöht wer-den kann, hat man schon lange durch cliemiscli-physiologische Untersuchun-gen festzustellen gesucht, welche MenUntersuchun-gen der einzelnen Nahrungsstoffe, der eiweissartigen Körper, Fette, fettbildenden Salze und des Wassers, zur Ernäh-rung eines kräftig arbeitenden Mannes in einem gewissen Zeiträume noth-wendig sind. Man hat ferners im Zusammenhange damit die Nahrungsmittel, welche nach ihrem häutigen Vorkommen überhaupt in Betracht zu ziehen sind, genau analysirt und nach deren Bestandtheilen berechnen können, welche Quantitäten der gewöhnlichen Speisen absolut nothwendig sind, um das früher gefundene Normal-Kostmass auch wirklich dem Arbeiter zu liefern.
Sowie auf diesem Wege hat man in neuerer Zeit die nämliche Frage noch anders wissenschaftlich zu lösen getrachtet. Man hat untersucht, welche physiologischen Wirkungen die einzelnen Nahrungsmittel durch die bekannt-lich im menschbekannt-lichen Körper regelmässig erfolgende Verbrennung (Oxydation) jedes derselben hervorrufen; unter Berücksichtigung der Wärmetheorie von
J. R. M a y e r und R. C l a u s i u s konnte man dann auf Grundlage von Experi-menten nachweisen, wie gross die aus der Wärmeentwicklung entstehende Kraftmenge ist, welche der Geuuss eines bestimmten Nahrungsmittels im Körper erzeugt.
Durch beide Arten von Untersuchungen gelangte man nun zu jenen volks-wirthschaftlich wichtigen Ergebnissen, mit welchen wir uns hier beschäftigen;
man vermochte nämlich den Nalirungswerth jedes Nahrungsmittels ziffer-mässig auszudrücken und im Zusammenhange mit den durchschnittlichen Marktpreisen eines jeden der letzteren zu bestimmen, wie der Arbeiter mit der geringsten Ausgabe im Stande ist, sich den höchsten Kraftersatz durch richtige Auswahl der Nahrungsmittel zu verschaffen**).
*) Interessante Belege f ü r diese Behauptung findet man bei R o s c h e r , System d e r V o l k s w i r t b -s c h a f t ( l . , S. GH). Im Allgemeinen hat wohl Q u e t e l e t in -seinem W e r k e : „Sur l'homme cl le développement de ses facultés" zuerst darauf aufmerksam gemacht.
, **) Oie chemisch-physiologischen U n t e r s u c h u n g e n , auf welche wir hier zu s p r e c h e n kamen, sind älteren Datums und zu b e k a n n t , um derselben an dieser Stelle gedenken zu dürfen ; man h'udet·
1 7 4 Einleiinng.
Von dem Volksscliulwesen angefangen, bis hinauf zu der höheren Fach-lehranstalt lässt sich der social-ökonomische Zug nachweisen, dass das Lehren und Lernen nicht mehr als Mittel zur Erreichung theoretischen Wissens, sondern rein praktisch als eines der wichtigsten Elemente der w i r t s c h a f t -l i c h e n Production aufgefasst wird. Weder der Ehrgeiz, einen mög-lichst hohen Percentsätz der schulbesuchenden Jugend nachweisen zu können, noch das Verlangen, ein Volk tiefer Denker heranzubilden, sind die Triebfedern der rationellen Reformatoren in der Gegenwart. „Lernet, damit ihr arbeiten könnt" ist die Devise derselben. Das Programm der französischen Ausstel-lungs-Commission hatte diese Richtung deutlich genug bezeichnet, indem es die Unterrichts- und Bildungsmittel an die Spitze derjenigen Gruppe stellte, welche die „Verbesserung der physischen und moralischen Lage der Bevöl-kerung" umfasste. Die einzelnen Staaten aber gingen je nach dem Grade ihrer wirtschaftlichen Entwicklung mit mehr oder weniger Erfolg auf den Gedanken ein, das Unterrichtswesen als Bedingung der nationalen A r b e i t aufzufassen.
Im Einzelnen durchzufuhren, inwieferne die Hebung des Unterrichts-wesensund die grossartige Vervielfältigung der freien Bildungsmittel in der jüngsten Vergangenheit auf die intellectuellc Leistungsfähigkeit des Arbei-terstandes eingewirkt hat, müssen wir uns — schon aus räumlichen Rück-sichten — versagen; auf die meisten Momente, welche einen zuverlässigen
Schluss in dieser Beziehung zulassen, ist ohnedies in denjenigen Berichten hingewiesen, die sich mit dem Gegenstande ausschliessend beschäftigen *).
Wir beschränken uns hier auf die gedrängte Anführung einiger besonders eclatanter Thatsachen.
Wie sehr F r a n k r e i c h auf die Bildung der arbeitenden Classen haupt-sächlich sein Augenmerk richtet, und welche Fortschritte es dabei schon gemacht hat, geht jedes Jahr deutlicher aus den statistischen Erhebungen hervor; der Besuch der Volksschulen nimmt nur langsam zu, jener der Unter-richtsanstalten für den eigentlichen Arbeiter wächst ausserordentlich rasch. Da-hin rechnen wir vor Allem die sogenannte Cours d'adultes, Abendeurse für Er-wachsene; im Jahre 1846 von 115.164 Personen besucht, zäldten sie am 1. April 1867 nicht weniger als 829.555 Frequentanten. Die Vorträge der Association polyteclrnique et philotechnique in Paris, die zahlreichen secundären
*) Vgl. die Berichte des H e r r n S c h u l r a t h e s P r a u s e k ü b e r Volksschulen (XI., S. 127 IT.), des Herrn P r o f . Dr. K o r n h u b e r über den mittleren und g e w e r b l i c h e n U n t e r r i c h t (XI., S. 2 0 2 ff.), des H e r r n Prof. N ' l e m t s c h i k über den Z e i c h n e u u n t e r r i c h t (XI., S. 2 8 3 ) und des H e r r n P r o f . Dr. W. F . E i n e r (IX., S. 3 ff.).
-I E r h ö h u n g der Arbeitskraft. 175 und Fachschulen, welche vom Staate, von Gemeinden, von Grossindustriellen in's Leben gerufen wurden und fortwährend vermehrt werden, erhalten ein immer zahlreicheres Auditorium,· der gewerbliche Zeichnen-Unterricht wird immer mehr, und zwar in rapider Steigerung gepflegt — dies Alles, während gleichzeitig die Zahl derjenigen Personen, die sich den gelehrten Berufs-zweigen widmen und welchen Diplome ausgestellt wurden, in einem der letzten Jahre nur um- 154 zugenommen, in einem anderen gar um 972 abgenommen hat. Fürwahr ein Zeichen der Zeit; wie sich die hervorragend-sten Gelehrten den angewandten Wissenschaften widmen, so beleben grosse Künstler die Industrie mit ihrem Genius. Das Resultat, die intellectuelle Hebung des Arbeiterstandes, kann bei diesen, das Haupt und die Glieder zugleich umfassenden Reformen nicht mehr bezweifelt werden.
E n g l a n d , das Heimatland der freien Arbeit, hat in den letzten zwölf Jahren bekanntlich die grössten· Anstrengungen zur Ausbildung der geisti-gen, insbesondere der künstlerischen Leistungsfähigkeit des Volkes gemacht.
Die Ragged schools, mit denen vielfach besondere I n d u s t r i e n l a s s e n ver-einiget sind, die Einrichtung von Schulen in den Fabriken selbst, die Hand-werker-Collegien und Abendclassen der Mechanics Institutes, die Ge-werbeschulen und Collegien für Arbeiter, die zahlreichen K u n s t s c h u l e n , welche je nach den localen Industrie-Verhältnissen der einzelnen Städte mannigfach modificirt sind und den Geschmack in alle Gewerbe Ubertragen, die Science Schools für Arbeiter, endlieh die Unterstützung, welche ein wahrhaft classisches Institut, das S o u t h - K e n s i n g t o n - M u s e u m , den über das ganze Land verbreiteten Unterrichtsanstalten gewährt, haben bereits die schönsten Früchte getragen. Schon ist die Hälfte der städtischen Bevölkerung Englands mit Kunstschulen versorgt; die Zahl der Schüler der Schools of Art ist von 3296 im Jahre 1851 auf 104.688 im Jahre 1866, jene der Science Schools von 500 im Jahre 1860 auf 10.231 im Jahre 1867 gestiegen und gehört beinahe gänzlich den arbeitenden Classen an*). „Der in denselben ertheilte Unterricht übt" — wie Professor K o r n h u b e r berichtet — „den wohlthätigsten Einfluss auf die Arbeiterbevölkerung; er erhebt sie, während er die Fabrikationskraft des Landes steigert, zu einer höheren gesellschaft-lichen Stellung". Ein dem englischen Parlamente kürzlich vorgelegter Commissioners Report enthält aus allen Theilen des vereinigten Königreiches zahlreiche Zeugenaussagen über die Hebung des Charakters und der Lei-stungsfähigkeit der Arbeiter-Bevölkerung durch den Unterricht; in einer
*) Vgl. L u d l o w und J o n e s , die a r b e i t e n d e n Classen Englands. (S. 114). ·
1 7 6 i dieser Aussagen, welche wir zur Bekräftigung unserer Ansicht über die sociale Frage anführen, keisst es: „der Unterriebt hat ohne Zweifel den Werth der nationalen Arbeit erhöht; er hat intelligente Arbeiter geschaffen, welche bei sonst gleichen Eigenschaften sich selbst nnd ihren Arbeitsgebern mehr werth sind, als unwissende". Aehnlich lauten noch viele andere Gut-achten; sie alle sind Belege für die auf rein wirthschaftlichem Wege sich vollziehende Reform zur Verbesserung der Lage des Arbeiterstandes *).
Um die letzte in der Trias der industriellen Westmächte zu nennen, erinnern wir endlich noch an B e l g i e n , dessen Unterrichtswesen die näm-liche Erscheinung sehr deutlieh illustrirt. Ger gewerbnäm-liche Unterricht an den Mittelschulen und Athenaeen, die fachliche Ausbildung, welche durch Indu-strieschulen, durch Musteranstalten für Weherlehrlinge, und im höheren Grade für einzelne wirthschaftliche Berufskreise (durch nautische Schulen ete.) er-theilt wird, ist ein Beitrag zu dem bewussten Streben, die Lage der Arbeiter classe im intellectuellen Sinne zu verbessern.
Dazu gesellt sieb aber in allen drei Staaten eine unabsehbare Reihe von f r e i e n B i l d u n g s m i t t e l n , welche den Arbeiter auf seinem ganzen Lebens-wege begleiten. Zu dem mehr oder weniger schulmässigen Unterrichte kom-men die in Arbeiter-Vereinen und Versammlungen abgehaltenen, in das Ge-wand der Unterhaltung gekleideten, heiehrenden Vorträge, wie sie heute so häufig an der Tagesordnung stehen. Es kommt dazu die bequeme und unmerk-liche Aneignung des Wissens, welche durch Museen, Sammlungen, Aus-stellungen vermittelt wird und in allen Schichten des Volkes bereits die schönsten Resultate gezeigt hat; nicht minder die Volkse-Bibliotheken und Lesezimmer, welche durch eigene Clubs, Vereine, einzelne Industrielle oder den Staat begründet und erhalten, und sowohl in England als in Frankreich immer mehr von den Arbeitern beniitzt werden **). Endlich sei des grossen Antheiles gedacht, welchen die Publicistik an der intellectuellen Hebung dieser Classe von Staatsbürgern gegenwärtig nimmt. Die billige Literatur, die zahlreichen Volksschriften, die wohlfeilen Ausgaben vorzüglicher Autoren und dazu die immense Verbreitung von „Zeitschriften" und „Magazinen"
*) Den F o r t s c h r i t t , w e l c h e r in diesen E i n r i c h t u n g e n liegt, kann man allerdings am besten ans den Leistungen d e r Arbeiter seihst e r k e n n e n . Die englische E n n s t i n d u s t r i e nnmenUieh hat auf d e r 1867er Ausstellung Resultate g e z e i g t , welche mau v o r 15 J a h r e n iiir unmöglich g e h a l t e n haben w ü r d e ; sie ist — wie Herr F r . S t ä c h e (IX., S. 51 u. 57) e i n g e h e n d gezeigt hat — seit d e r e r s t e n Weltausstellung zu London im J a h r e 1851 eine ganz andere g e w o r d e n und hat in einigen Z w e i g e n b e r e i t s den ersten Platz e r r u n g e n .
**) Herr Dr. C. T h . R i c h t e r hat « h e r die Einrichtung d e r V o l k s b i b l i o t h e k e n in diesem Be-r i c h t e (XI. Heft, S. 3 1 4 IT.) sehBe-r an Be-r e g e n de Mt tili eil e n g e n gemaeht.